Der Fall Sürücü und die Toleranz

Ein Schicksal erschüttert in diesen Tagen viele von uns: Hatun Sürücü, eine junge Frau, die in Berlin von ihrem eigenen Bruder erschossen wurde, weil sie aus dem Käfig einer Zwangsehe ausgebrochen war und mit dem Mann zusammengelebt hatte, den sie liebte. Wahrscheinlich, dass es die Tat einer ganzen Familie war, die zwar in Deutschland lebt, die deutsche und ihre ostanatolische Lebensweise jedoch für so unvereinbar hält, dass sie den jüngsten Sohn zum Mörder machte – zum Mörder der eigenen Schwester. Sie nennen es Ehre, für mich ist es so ziemlich das Unverzeihlichste, was ich mir denken kann: sein eigen Fleisch und Blut zu töten. Ein Vorgang, der zeigt, welche Welten uns trennen, Menschen, die hier in ein und dem selben Land zusammenleben.
Bei der Frage, wie wir als Deutsche darauf reagieren sollen, nehme ich eine große Unsicherheit wahr. Was haben wir uns nicht alles an Rechtfertigungen zurecht gelegt, um weg zu schauen und uns dabei noch fortschrittlich zu geben! Wir verweisen auf die eigenen dunklen Seiten unserer Geschichte, die uns den erhobenen Zeigefinger verbieten. Wir verweisen darauf, dass es sich ja nur um eine kleine Minderheit handelt. Wir üben uns in Toleranz und Verständnis und wollen nicht diskriminieren. Und nennen Missstände eine ‚kulturelle Eigenart’, die wir zwar nicht teilen, aber respektieren müssten. Und schließlich und endlich: Wir wollen doch nicht in der falschen Schublade landen, uns in einem Topf mit Ausländerfeinden, ja mit Neonazis wiederfinden oder zumindest Wasser auf deren Mühlen leiten. So ist es: Der Weg zur Hölle ist auch mit guten Absichten und lauteren Motiven gepflastert.
Angenommen, deutsche Rechtsradikale würden im Ausland Verbrechen begehen – ich wäre den Menschen dieses Landes dankbar für die Erkenntnis, dass das nicht ‚die Deutschen’ sind, sondern eine kleine Minderheit. Aber ich hätte kein Verständnis dafür, wenn sie diese Taten tolerieren und als ‚kulturelle Eigenart’ schönreden würden.
Mir ist in diesen Tagen das Taschenbuch ‚Ich klage an’ von Ayaan Hirsi Ali in die Hände gekommen, jener niederländischen Parlamentsabgeordneten somalischer Abstammung, die für eine Reform des Islam eintritt und deshalb untertauchen musste. Besonders nachdenklich gemacht hat mich dabei, wie sie mit dem liberalen Westen ins Gericht geht. Mit unserer Weigerung, Kritik an gewissen Traditionen und Praktiken unter Einwanderern zu üben, die diese mit dem Islam begründen. Ihre These: Mit unserer falsch verstandenen Toleranz tragen wir dazu bei, unmenschliche Formen des Zusammenlebens zu zementieren. Ihr lasst uns damit im Stich, sagt sie, uns, die wir uns für eine Reform des Islam einsetzen, und vor allem die Opfer jener unmenschlichen Gesellschaftsformen – junge Frauen zuallermeist. Geschwisterlich ist es nicht, sagt Ali, Muslime in Ruhe zu lassen, sondern ihnen zu helfen, in der Moderne anzukommen – wo nötig, auch durch herausfordernde Kritik. Auch wenn konservative muslimische Kräfte natürlich mit heftiger Abwehr reagieren und ‚den Islam’ oder ‚die Muslime’ beleidigt sehen.
Und in diesem Sinne muss man sagen: All die oben beschriebenen Tugenden sind gut; Selbstkritik ist löblich und Toleranz ist wichtig. Aber wir müssen auch wissen, was wann angebracht ist. Tolerieren kann ich alles, was anderen kein Leid zufügt. Wo ich Zeuge eines Unrechts werde, ist nicht Toleranz, sondern Solidarität mit dem Opfer angesagt. Hätten die Alliierten angesichts des Holocaust tolerant sein sollen?
„Eine Schande für die gesamte türkische Gemeinde“ nennt Faruk Sen, Leiter des Zentrums für Türkeistudien in Essen, den Mord an Hatun Sürücü, und türkische Moscheen und Organisationen ruft er auf, „so genannte Ehrenmorde zu ächten“. Wir alle müssen aktiv werden, Politiker, Gerichte, Christen und Muslime guten Willens, Andersgläubige und –denkende. So viele noch unbekannte Hatun Sürücüs brauchen unsere Hilfe, unsere Einmischung und Solidarität. Über alle Religions- und Volksgrenzen hinweg.

Winnender Zeitung 29.04.06

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