Terri Schiavo und der Feinstaub

Terri Schiavo – manche konnten den Namen vor ein paar Wochen nicht mehr hören. Was für ein Theater um eine Frau, sagte mir jemand – dabei liegen doch so viele im Sterben.
Aber es ging ja nicht nur darum, dass irgend eine Frau im Sterben lag. Es ging um die Frage, was Leben ist und wer es wann beenden darf, in wieweit wir über Leben und Tod anderer entscheiden dürfen – um das alte und immer wieder neue Thema Sterbehilfe. Es ist gut, dass uns dieses Thema immer wieder beschäftigt, dass wir damit nicht so einfach ‚fertig’ sind. Das gebietet der Respekt vor dem Leben. Manch einen erschreckt dabei die Vorstellung, einmal eine Entscheidung über Tod und Leben anderer fällen zu müssen, und nicht wenige, die sich als Schützer des Lebens verstehen, haben vehement darauf bestanden, dass niemand in solcher Weise in das Leben eines anderen eingreifen, ja ihm Ende setzen darf.
Aber tun wir dies nicht laufend?
Diese Tage war immer wieder eine Zahl zu hören: 65 000 Tote fordert jedes Jahr der Feinstaub aus den Auspuffen unserer Autos. 65 000. Und auch wenn genaue Zahlen mit Vorsicht zu genießen sind, so steht doch außer Frage: Der Autoverkehr stellt eine erhebliche Belastung dar für Umwelt und Gesundheit der Menschen. Jeden Tag greifen wir mit jeder Autofahrt in das Leben unserer Mitmenschen ein. Dasselbe gilt für jeden Flug, den wir absolvieren, für jede Zigarette, die wir anzünden, für jeden Druck auf ein Spray, soweit es noch FCKW-betrieben ist. Warum weigern sich diejenigen, die dagegen sind, lebenserhaltende Geräte abzuschalten, die für den Schutz des Lebens demonstrieren, nicht auch, ein Auto zu besteigen? Weil der Tod anderer hierbei nur indirekt ausgelöst oder ‚billigend in Kauf genommen’ wird? Das wäre fatal. Es wäre die Moral des Mafiabosses, der sich auch nicht persönlich die Hände schmutzig macht.
Oder hängt es vielleicht damit zusammen, dass wir uns nur dann für das Leben (anderer) einsetzen, solange es uns nichts kostet? Keinen Ärger, keine Anstrengung, keinen Abstrich an Bequemlichkeit und natürlich und nicht zuletzt: kein Geld? Die Streiter für Terri Schiavos Leben in Ehren – aber hätten sie sich, von den Eltern und Geschwistern einmal abgesehen, auch dann noch dafür eingesetzt, wenn sie die Pflege hätten übernehmen, wenn sie die Kosten der lebensverlängernden Maßnahmen hätten tragen müssen? Was ist uns das Leben – auch der anderen! – wert?
Das Leben ist das höchste Gut, sagen wir, und so sagt es das Grundgesetz. Aber dieses Leben – und nicht nur meins! - zu schützen, zu erhalten und zu fördern, das geht nicht zum Nulltarif, das wird uns immer wieder etwas wert sein müssen, und erst dann wird sich zeigen, welchen Wert es für uns darstellt. Leben ja – aber bitte keine Abstriche beim Autofahren, keine Abstriche beim Fliegen, keine Abstriche beim Konsum – das geht nicht. Wir müssen uns entscheiden, was wir wollen. Unbewusst tun wir das doch schon längst jeden Tag – Politiker, Industriemanager, wir alle. Nicht erst bei der Entscheidung, ob Geräte abgeschaltet werden, sondern schon durch unseren Lebensstil, durch das, was wir herstellen und verwenden.
Natürlich können wir nicht in die Steinzeit zurückkehren. So paradox es klingt – Leben (im gegenwärtigen Umfang) können wir heute wohl nicht mehr erhalten ohne ein gewisses Maß an Lebensbeeinträchtigung. Aber diese auf ein Mindestmaß zu reduzieren muss unser Ziel sein. Nur wer dafür streitet, darf sich zu den Schützern des Lebens zählen.
Für viele klingt das sicherlich nach Spaßverderber. Aber langfristig haben wir nur eine Chance, wenn aus der Spaßgesellschaft eine Verantwortungsgesellschaft wird. Wir alle beeinflussen einander und tragen deshalb Verantwortung füreinander. Sonst wird uns der Spaß bald gehörig vergehen.
Sterbehilfe ist ein wichtiges Thema. Aber noch wichtiger vielleicht ist Lebenshilfe: Wie können wir alle so leben, dass alle leben können?

Winnender Zeitung 12.04.2005

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