Pro-test bedeutet nicht ‚Null Bock’
Protest! Fast täglich wird uns der vor Augen geführt. Keine Welthandelskonferenz ohne Globalisierungsgegner. Wir sehen Krawalle im Fernsehen, verletzte Polizisten, Chaos; über die Anliegen der Protestierer erfahren wir in aller Regel nichts; sie sind eben irgend wie „dagegen“.
Die Alteren von uns erinnern sich gewiss noch an die Studentenproteste der späten Sechzigerjahren, Parolen skandierende junge Menschen, umgeworfene Autos, Schlägereien mit der Polizei.
Das ist unser – von den Medien beeinflusstes - Bild vom Protest: gegen etwas, besser noch: gegen alles sein, zerstören, Chaos anrichten.
Nun ist am 31. Oktober Reformationstag, und da feiert ein anderer Protest 486. Geburtstag: die Reformation. Ihr Beginn wird mit dem Thesenanschlag Luthers in Wittenberg 1517 angesetzt. Zwölf Jahre später, beim Reichstag in Speyer 1529, hat es den Versuch gegeben, die Evangelischen zum katholischen Glauben zurückzuzwingen, wogegen sie protestierten und bis heute den Namen „Protestanten“ tragen.
Aber es ging ihnen eigentlich weniger darum, gegen etwas zu sein, sondern darum, weiterhin für etwas sein zu können. Ein Pro-test ist ja wörtlich ein „Für-Zeugnis“. Und das heißt eben nicht, destruktiv gegen alles zu sein, und es hat überhaupt nichts zu tun mit „Null Bock“. Es geht darum, für etwas einzutreten, ein Zeuge für etwas zu sein, was einem ungemein wichtig, ja, was einem am allerwichtigsten ist. Es geht darum, Ideale zu haben, die Rangordnung in seinem Leben klar zu bekommen: Was ist mir am allerwichtigsten, so wichtig, dass ich bereit bin, andere Dinge dafür aufzugeben, dass ich bereit bin, etwas dafür zu riskieren - vielleicht sogar mein Leben.
Luther hat in seinen 95 Thesen deutlich gemacht, was ihm am allerwichtigsten war, und er war – ebenso wie seine Mitstreiter – in den folgenden Jahren bereit, dafür durchs Feuer zu gehen und sein Leben zu riskieren: ein Leben ohne Angst, wissend um den gnädigen und nicht bedrohlichen Gott. Ein Christenleben, mündig und frei – allerdings nicht von jeder Verantwortung, sondern zum Engagement. Das war sein Anliegen, für das er Zeuge sein wollte und das auch in unserer heutigen Welt sicherlich nicht überholt ist.
Protest – ein „Für-Zeugnis“ - das heißt auch: wissen, dass man nicht alles gleichzeitig haben kann, heißt, sich zu dem bekennen, was einem am allerwichtigsten ist. Luther wusste: Er konnte nicht alles haben, das neuentdeckte Wissen um den gnädigen Gott und das Geld und die Macht des damaligen Klerus. Er wählte ersteres und damit das Leben eines Verfolgten und die Gefahr, auf dem Scheiterhaufen zu enden. Aber seine Glaubensgewissheit ging ihm über alles.
Auch wir können heute nicht alles zugleich haben: Wohlstand auf Kosten der dritten Welt und den Weltfrieden, grenzenloser Konsum und eine intakte Umwelt, eine belastungsfreie Jugend und ein gesichertes Alter. Wir müssen uns entscheiden und uns zu dem bekennen, was uns am wichtigsten ist - und den Preis dieser Entscheidung entrichten. Auch in unseren Kirchen, wo angesichts rückläufiger Einnahmen schmerzhafte Entscheidungen anstehen und wohl ganze Bereiche abgegeben werden müssen. Die Frage „Gut oder Schlecht“ stellt sich selten, meist jedoch die: Wofür bin ich bereit, was in Kauf zu nehmen?
Gefragt sind heute nicht Menschen, die ständig lamentieren, dass alles auch einen Nachteil hat und deshalb gar nichts tun, sondern gefragt sind Protestanten, die aus ihrer Verantwortung vor Gott heraus sich zu dem bekennen, was ihnen am allerwichtigsten ist und die Folgen mutig tragen (und dabei auch nicht versuchen, sie anderen aufzubürden). Und gefragt sind nicht nur Kritiker, sondern eben auch Für-Zeugen, die etwas Positives vorleben. Den Sozialabbau kritisieren ist gut; überzeugende Alternativen haben ist besser. Die Kommerzialisierung des Sonntags kritisieren ist gut; eine andere Sonntagskultur leben ist besser. Toll wäre es, wenn Kirchen und Christen hier vorangingen.
Winnender Zeitung 31.03.03
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