Predigt beim Gottesdienst am Volkstrauertag 18. November 2001 im Paul-Schneider-Haus in Winnenden

Text: Jeremia 8, 4-7


Liebe Gemeinde,

seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begehen wir den Volkstrauertag. Wir denken dabei an die Toten beider Weltkriege und zwangsläufig dabei auch daran, warum diese Menschen sterben mussten. Wir versuchen, der Frage nachzugehen, was zum Krieg führt und haben dabei in den vergangenen Jahrzehnten, wie es sich für Christen geziemt, auch unseren eigenen, deutschen Beitrag zum Unfrieden kritisch beleuchtet. Nicht zufällig steht der Volkstrauertag auch in zeitlicher Nähe zum Buß- und Bettag.
Manch einer hat sich in den letzten Jahren die Frage gestellt, ob es noch angebracht ist, diesen Tag zu begehen, wo die Ereignisse mittlerweile doch so weit zurückliegen. Ich meine: Dort, wo wir nicht in der Vergangenheit stehen bleiben, sondern den Volkstrauertag zum Anlass nehmen, den Unfrieden in unserer heutigen Zeit und unseren möglichen Beitrag dazu zu bedenken, ist es allemal angebracht und wird es immer angebracht sein, diesen Tag zu begehen.
Und es ist ja auch so, dass wir uns mit dem 11. September wieder unerbittlich in Erinnerung gerufen wurde, dass wir in einer unfriedlichen Welt leben und dass unser Leben bedroht ist. Im Unterschied zum Zweiten Weltkrieg werden wir uns dabei jedoch weniger als Täter, sondern mehr als Opfer fühlen.

Hat uns in dieser Situation der Prophet Jeremia etwas zu sagen? Jener einsame Rufer, der den schwierigste aller Aufträge hatte, nämlich sein Volk zur Umkehr zu rufen, wohlwissend, dass es gar nicht mehr hören will?
Auch Israel – genauer gesagt, Juda, das Südreich – ist bedroht. Babylon steht vor der Tür, die Weltmacht der damaligen Zeit, das schon so viele andere Kleinstaaten geschluckt hat – das Nordreich unter anderem – und sie zu harten Tributzahlungen verpflichtet. Sein König Nebukadnezar ist bekannt dafür, dass er mit den Unterworfenen nicht zimperlich umgeht. Was soll Juda tun? Hier gehen die Meinungen auseinander. Jeremia rät dem König Zedekia zum Frieden, mahnt ihn, nicht auf „Rosse und Streitwagen (Ägyptens)“ zu vertrauen, sondern einen Ausgleich zu suchen mit den Babyloniern.
Aber damit steht er einsam da. Das Volk und auch einflussreiche Kreise am Hof hat offenbar eine Woge von nationalistischem Überschwang erfasst, getränkt mit religiösem Fanatismus. Wir sind doch Gottes Volk, wir sind die Auserwählten, wir werden siegen, mit Jahwes Hilfe; auch wenn wir in der Minderheit sind, siegen wir wie seinerzeit Gideon oder die Israeliten am Roten Meer. Ein Defaitist, ein Verräter, kein richtiger Jude, wer anders denkt!
Dies war eine völlige Verkennung der Kräfteverhältnisse. Jeremia ist fast der einzige Realist. Oft sind die Propheten als Träumer verschrien, aber manchmal sind sie die eigentlichen Realisten, die noch kühlen Kopf bewahren..
„Vertraut nicht auf Rosse und Streitwagen!“ rief er, „vertraut auf Jahwe!“ Damit ist seine Botschaft eine ganz ähnliche wie die seiner Gegner, nur dass Vertrauen zu Jahwe für ihn etwas anderes bedeutet. Ihr könnt Jahwe nicht für Euren Krieg instrumentalisieren, so lautet seine Botschaft. Jahwe will Frieden, also sucht den Frieden!
Die Mehrheit und auch der König hören nicht auf ihn. Der Krieg gegen Babylon wird aufgenommen, die erhoffte Hilfe Ägyptens erweist sich als Strohhalm, der rasch zerbricht, Jerusalem und der Tempel werden zerstört, die Oberschicht des Volkes gefangen nach Babylon geführt. Aus.
Jetzt schreien viele, jetzt haben es viele schon immer gewusst: Jeremia sagte die Wahrheit, hätten wir doch auf ihn gehört! Jetzt, wenn es zu spät ist.
Jeremia musste voraussehen, dass sein Volk nicht auf ihn hören wollte. Warum ließ er sich dennoch auf diese sinnlose Aufgabe ein, sein Volk zur Umkehr zu rufen, eine Aufgabe, die ihm nur Schwierigkeiten und Anfeindungen, die sein Leben in Gefahr brachte?
Die Antwort wird zum einen darin liegen, dass er den Auftrag Gottes als ein unbedingtes ‚Muss’ begriff, hinter dem seine persönlichen Empfindlichkeiten zurückzustehen hatten. Und zum anderen war die Liebe zu seinem Volk wohl so groß, dass er gar nicht mit ansehen konnte, wie es auf den Abgrund zuraste. Er vergleicht dieses Volk ja mit wildgewordenen Hengsten. Ich habe eine Szene aus einem Western vor Augen, wo die Pferde durchgehen und mitsamt dem Wagen auf eine Schlucht zurasen. Der Wagenlenker kann anstellen, was er will, auf sie einschlagen, an den Zügeln reißen, auf sie einschreien – es nützt nichts, sie rasen wie besessen auf den Abgrund zu, auf ihren eigenen Tod. Wer wird, wenn er diese Tiere liebt, nicht bis zum letzten Moment alles ihm Mögliche tun, um sie aufzuhalten, um sie zur Umkehr zu bringen, in eine anderen Richtung, weg vom Abgrund? So auch Jeremia. Die, die zur Umkehr rufen, sind immer wieder die, die ihr Volk am meisten lieben – nicht die, die nationalistische Töne spucken, sondern die, die man als „vaterlandslose Gesellen“ verunglimpft.
Jeremia sieht im Verhalten seines Volkes und des Königs letzten Endes einen Bundesbruch. Das Volk will nicht auf Jahwe hören, es hält sich selbst für weiser. Andere Dinge sind ihm wichtiger geworden als der Wille Jahwes. Er fordert die Rückkehr zu den Zeiten, in denen der Bund gehalten wurde. Die Propheten des Altern Testaments sind in der Regel keine Revolutionäre, sondern – in unserem heutigen Jargon gesprochen – eher Reaktionäre. Jeremia fordert die Rückkehr zu früheren, besseren Zeiten und sieht die hereinbrechenden Babylonier als Gottes Strafgericht für das unbußfertige Volk.
Und hier kommen wir natürlich an die Grenzen dessen, was wir auf heute übertragen können. Die Bedrohung durch das Terrornetzwerk Al-Qaida und die furchtbaren Anschläge des 11. September kann ich nicht als das Werk Gottes begreifen – im Gegensatz zu ihren Urhebern. Bei allem, was man an den Vereinigten Staaten kritisieren kann – und ich werde darauf noch zu sprechen kommen – ein solcher Massenmord ist nicht die richtige Antwort darauf, er ist ein abscheuliches Verbrechen und durch nichts zu rechtfertigen. Jesus hat uns einen anderen Gott gezeigt – keinen rachsüchtigen, der alles vernichten will, sondern einen liebenden und barmherzigen. Es gelten Gottes Worte am Ende der Sintfluterzählung: “...ich will hinfort nicht mehr...“ Er will nicht vernichten, sondern mit unglaublicher Geduld zur Umkehr rufen, auch wenn er ähnlich wie Jeremia oft das Gefühl haben muss, es ist umsonst bei uns Menschen. Auch eine Rückkehr zu einer ‚goldenen Zeit’ der Vergangenheit kann es nicht geben. Hat es jemals eine Zeit gegeben, in der wir alle gute Christen waren und uns an Gottes Wort gehalten haben? Das Mittelalter, in dem man dies mir der Inquisition zu erzwingen suchte? Die Zeit der Glaubenskriege? Oder des Absolutismus? Das neunzehnte Jahrhundert mit seiner industriellen Revolution und seinem großen sozialen Elend oder das zwanzigste mit seinen beiden Weltkriegen? Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir erkennen: Ein goldenes Zeitalter hat es nie gegeben. Als Christen können wir nur auf die Gegenwart und in die Zukunft blicken.

Verlockend wäre es aber gewiss, sich vorzustellen, was Jeremia uns heute zu sagen hätte, wo er uns ins Gewissen reden, wo er uns zur Umkehr rufen würde. Sicher hätte er es damit auch heute nicht leicht. Die Versuchung ist groß, und nur als Opfer zu begreifen und die Welt in Gut und Böse einzuteilen – wobei wir dann natürlich die Guten sind. Aber wer genauer hinsieht, muss erkennen, dass dies zu einfach ist. Als Christen zeigen wir nicht nur mit dem Finger auf andere, sondern fragen auch nach unserem eigenen Beitrag zum Unfrieden. Vergessen wir nicht: Auch zu Jeremias Zeit konnte man die Babylonier durchaus als die eigentlichen Störenfriede, als das „Reich des Bösen“ sehen. Jeremia hätte nie bestritten, dass Babylon eine aggressive und böse Macht ist, hätte mit seinen Worte niemals die Art und Weise rechtfertigen wollen, mit der diese Großmacht andere Kleinstaaten schluckte. Aber trotzdem: Seine Kritik gilt nicht Babylon. Sie gilt dem eigenen Volk. Gott fragt zuallererst einmal nach seinem Volk, nach dem Volk, das er auserwählt und dem er seine Gebote bekannt gemacht und das die Aufgabe hat, andere in der Einhaltung dieser Gebote zum Nacheifern zu reizen. Von anderen kann er nicht im selben Maße die Befolgung seiner Gebote erwarten. Aber von Israel. Israel soll deshalb bei sich anfangen, soll selbst umkehren und nicht den ersten Schritt von anderen erwarten.
Bonhoeffer schrieb während seiner Gefangenschaft: Gott schickt nicht die Katastrophen, aber er kann auch die schlimmsten Ereignisse benutzen, um uns Menschen etwas zu zeigen, um uns die Augen für etwas zu öffnen. Er war überzeugt, dass seine Gefangenschaft auch dazu diente.
In seinem Sinne können wir sagen: Die Anschläge des 11. September hat nicht Gott gelenkt. Aber ganz sicher kann er uns auch durch diese Ereignisse etwas sagen.
Und so sind diese Ereignisse vielleicht auch eine Ruf an uns, zu fragen: Was dient dem Frieden? Und: Wo haben auch wir als westliche Welt und wir als Deutsche bisher Unfrieden gefördert und müssen umkehren?
Zunächst einmal müssen wir uns fragen: Warum erwachen wir erst jetzt? Seit Jahren leiden andere Völker unter dem Terror und haben dabei oft noch mehr Opfer zu beklagen als die USA. Hat es uns gekümmert? Kümmert es uns, wenn in Algerien seit Jahren ganze Dörfer überfallen und sämtlichen Bewohnern die Kehlen durchgeschnitten werden – von islamistischen Terroristen, die ebenfalls offensichtlich vom Ausland gesteuert oder zumindest finanziert werden? Kümmert uns das Unheil immer erst dann, wenn es uns zu nahe tritt, wenn wir Angst haben müssen, selbst bald betroffen zu sein?
Sodann: Wer sind die Leute, die wir nun bekämpfen – bin Laden und seine Gesinnungsgenossen? Waren sie nicht noch vor ein paar Jahren verbündete des Westens? Wurden nicht die Taliban einst vom Westen ausgerüstet, war nicht bin Laden einst ein Alliierter der ‚freien Welt’, weil er gegen die Rote Armee in Afghanistan kämpfte? Solange dies der Fall war, nahmen wir keinen Anstoß an seiner Vorgehensweise, er gehörte zu den ‚Guten’. Zum Inbegriff des Bösen wurde er erst jetzt, nachdem er die Seiten gewechselt hat.
In der Auswahl unserer Freunde und Verbündeten waren wir jahre-, ja jahrzehntelang nicht sonderlich wählerisch. Gaddafi in Libyen und Saddam Hussein im Irak wurden von uns eifrig mit Waffen und Giftgasanlagen versorgt. Nach dem Ausbruch des Golfkrieges wurde eine Liste von Firmen veröffentlichet, die für die Aufrüstung des Irak gesorgt hatten Darunter waren neben 18 US-amerikanischen auch 86 deutsche Firmen. Wir führen manchmal Krieg gegen die Waffenarsenale, die wir selbst aufgebaut haben.
Zu unseren Verbündeten zählte im Golfkrieg und zählt bis heute Marokko, das selbst die Sahara besetzt hält, die Bevölkerung dort unterdrückt und teilweise in Konzentrationslagern hält – mit unseren Waffen. Zu ihnen zählt Saudi-Arabien, in dem die drakonische Scharia in Kraft ist und kein Mensch einen anderen Glauben als den islamischen annehmen darf. In China buhlen wir geradezu um die besten Handelsbeziehungen. Dass dieses Land den Weltrekord an Hinrichtungen, dass es immer noch Tibet besetzt hält und dort in den vergangenen Jahrzehnten etwa die Hälfte der tibetischen Bevölkerung umgebracht hat. – wen kümmert es? Im Zweifelsfall ist das Geschäft offenbar doch wichtiger. Und deshalb wird eben über Afghanistan gebombt, nicht aber über Marokko, Saudi-Arabien oder China.
Sind wir glaubwürdig als Vorkämpfer für Menschenrechte? Sind wir überhaupt brauchbar als Anwalt von Frieden und Gerechtigkeit?
Die Terroristen müssen bestraft werden und alle, die Terrorismus fördern, sagt Präsident Bush. Schließen wir die Augen davor, wie viel an Terror, wie viel an Schrecken und Blutvergießen auch mit Hilfe unserer westlichen Länder über andere Völker gekommen ist? Jahrelang haben die USA in den Achtzigerjahren die Contra-Rebellen ausgerüstet, die in Nicaragua einfielen und ganze Dörfer niedermachten. Henry Kissinger brüstet sich heute damit, 1973 Augusto Pinochet in Chile an die Macht gebracht zu haben, der fast zwanzig Jahre lang Krieg gegen das eigene Volk führte. Die Länder Lateinamerikas können überhaupt ein Lied davon singen von ihrer leidvollen Geschichte als Hinterhof der USA, die jedes Mal, wenn ihnen eine Regierung nicht willfährig war, eine andere, ihnen ergebene an die Macht putschten. Auf diese Weise wurde über Jahrzehnte hinweg der Staatsterrorismus gegen das eigene Volk gefördert.
Auch unsere deutschen Regierungen haben stets gute Beziehungen zu Diktatoren und Massenmördern gepflegt. Nicht allzu lange ist es her, dass unser vormaliger Bundeskanzler in Indonesien dem Massenmörder Suharto die Hand reichte und ihn öffentlich als seinen persönlichen Freund bezeichnete. Und machen wir uns Gedanken darüber, was die Waffen anrichten, die wir exportieren und mit denen wir hier Arbeitsplätze sichern möchten? Wie wäre es, wenn Länder der Dritten Welt mit unserem Tod ihre Arbeitsplätze zu sichern versuchten?
Wenn die betraft werden müssen, die den Terrorismus fördern, dann müssen wir uns wohl auch selbst bestrafen.
Sind wir also glaubwürdig als Vorkämpfer für die Menschenrechte? Sind wir brauchbar als Anwalt für Menscherechte? Wie muss es ankommen bei anderen Völkern, wenn wir uns nun dazu aufschwingen? Ich bin überzeugt, dass wir nur dem Frieden näher kommen, wenn wir auch in der Lage sind, uns in den anderen hineinzuversetzen und die Dinge auch mit seinen Augen zu sehen. Wie müssen Völker außerhalb der westlichen Welt es empfinden, wenn bei uns das Geschäft jedes Mittel heiligt und wir immer gut Freund sind mit Diktatoren und Massenmördern und nun Krieg führen für die Menschenrechte? Müssen wir nicht als erbärmliche Heuchler erscheinen? Haben wir überhaupt irgend einen moralischen Kredit?
Wie müssen es andere Völker empfinden, wenn wir weiterhin unsere Geschäfte mit dem Tod treiben, wenn wir weiterhin unseren Lebensstil pflegen ohne Rücksicht darauf, was wir der Umwelt und was wir anderen Völkern damit antun.? Was war die Botschaft von Präsident Bush vor dem Weltklimagipfel? ‚Für uns zählen nur die US-amerikanischen Interessen, wir werden keine Maßnahmen zum Umweltschutz ergreifen.“ Will heißen: Was unsere Umweltverschmutzung bei euch anrichtet, interessiert uns nicht, ihr könnt uns, die Supermacht, ja ohnehin zu nichts zwingen.
Jeremia sagt: „Wer steht, wenn er fällt, nicht gerne wieder auf?“ Aber das ist ja die Frage: Erleben wir es so, dass wir fallen? Bislang geht es uns doch immer noch gut, die Konsum- und Spaßgesellschaft geht ungebremst weiter, gelobt ist, was Spaß macht und was Geld bringt, ohne Rücksicht auf die Umwelt und damit auf die Lebensgrundlagen ganzer Völker. Der Waffenhandel? Er richtet anderswo Schaden an. Die Klimaerwärmung mit unserem Kohlendioxid? Sie setzt in Kürze die Malediven unter Wasser und lässt Inseln im Pazifik verschwinden, aber doch nicht uns! Unserer Ozonkiller – sie lassen das Ozonloch über der Antarktis aufreißen, die Menschen bekommen nun eben auf der Südhalbkugel Hautkrebs, aber doch nicht wir!
Muss es nicht provozieren, wie wir so unsere Macht zur Schau stellen , unsere militärische und wirtschaftliche; muss es nicht provozieren, wie wir im vollen Genuß leben auf Kosten anderer Völker und ihrer Lebensgrundlagen? Fördern wir damit nicht zwangsläufig den Hass und die Aggressionen gegen unsere westliche Welt? Müssen wir nicht, wenn wir über den unfriedlichen Zustand unserer Welt nachdenken, auch unseren eigenen Beitrag dazu erkennen?
Sicher, eine solche Selbsterkenntnis ist unbequem. Viel bequemer ist es, weiter an die einfache Einteilung der Welt in Gut und Böse zu glauben. Der Ruf zur Umkehr ist heute so unpopulär wie zur Zeit Jeremias. Doch wo wir wirklich den Frieden wollen, kommen wir daran nicht vorbei. Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir weiterhin die Welt für einen Hollywoodfilm halten, in dem uns die einfachen Strickmuster von Gut und Böse vorgespielt werden und wir natürlich immer die Guten und die unseren die Helden sind – wie die arabische Welt übrigens auch - dann ist eines sicher, nämlich dass die Welt so unfriedlich bleiben wird, wie sie ist. Oder wollen wir wirklich Frieden – dann geht es nicht, ohne dass wir auch unseren eigenen Beitrag auf den Prüfstand stellen.
Wir müssen wir uns entscheiden, was für uns Priorität haben soll: Spaß und Geschäft – dann wird die Welt bis auf weiteres unfriedlich bleiben, weil die Kehrseiten für manche nicht so spaßig sind. Oder Frieden und Menschenrechte – dann müssen wir vielleicht doch auf das eine oder andere Geschäft und den einen oder anderen Spaß verzichten.
Mancher wird einwenden: All die Kritik gilt doch in erster Linie den USA! Das mag schon sein. Aber dort, wo wir uns so demonstrativ auf deren Seite stellen und ihnen öffentlich ‚bedingungslose Solidarität’ zusichern, da tragen wir Mitverantwortung. Auch unter Staaten ist nur ein kritischer Freund ein guter Begleiter. Wohin ‚bedingungslose Solidarität’ führt, haben wir bereits 1914 erlebt.

Die Anschläge des 11. September waren scheußliche Verbrechen; die Schuldigen müssen aufgespürt und bestraft werden. Unsere Regierungen müssen alles tun, um unsere Völker vor weiteren Anschlägen dieser Art zu schützen. Das ist ihre Pflicht. Dass dies nicht ohne die Anwendung von Gewalt und ohne Not für Unschuldige geschehen kann, egal, wie wir es anfangen, ist eine traurige, aber unabwendbare Tatsache. Wir stehen leider nicht in einer Situation, in der wir in ideeller Reinheit baden und unsere Hände in Unschuld waschen können. Wir – bzw. unsere Regierenden – haben im Moment nur die Wahl zwischen verschiedenen Wegen, uns die Hände schmutzig zu machen. Gehen sie nicht gegen die Al-Qaida vor, wird es noch weitere, vielleicht noch schlimmere Anschläge geben. Gehen wir gegen sie vor, wird ebenfalls Blut, auch unschuldiges vergossen. Die Wahrheit ist, dass unsere Regierenden um ihre Entscheidungen nicht zu beneiden sind. Und die Wahrheit ist auch, dass der Krieg in Afghanistan wohl unumgänglich war, so beklagenswert das ist. Natürlich kann und darf er bei weitem nicht das einzige Mittel der Terrorismusbekämpfung sein. Aber alle anderen Maßnahmen wie Wirtschaftsboykott führen, wenn überhaupt, nur langfristig zum Erfolg. Es hat zehn Jahre gebraucht, bis Libyen auf diese Weise gezwungen werden konnte, die Attentäter von Lockerbie herauszurücken. Diese Zeit haben wir im Moment nicht. Ein solcher Zeitplan würde bedeuten, das Leben von noch viel mehr, von vielen Tausenden von Menschen aufs Spiel zu setzen. Darum: So, wie es nötig war, dass die Alliierten Hitler-Deutschland militärisch bekämpften – auch wenn sie dies im Falle der USA nicht nur aus ideellen Motiven geschah – und so, wie es nötig war, in Deutschland ein Attentat auf Hitler wenigstens zu versuchen, so ist es nunmehr notwendig im wahrsten Sinne des Wortes, die Taliban und die Al-Qaida eben auch gewaltsam zu bekämpfen, auch wenn – ebenso wie beim Krieg der Alliierten – dabei Unschuldige werden sterben müssen und auch wenn man im einzelnen an der Art der Kriegführung, an der Verhältnismäßigkeit der Mittel, gewiss Kritik äußern kann. Und wenn wir befürworten, dass es eine Polizei gibt, die Verbrecher aufspürt und – notfalls mit Gewalt – dingfest macht und damit unser Leben schützt, dann müssen wir wohl auch befürworten, dass Verbecherkartelle wie die Al-Qaida auf internationaler Ebene - notfalls mit Gewalt - zerschlagen werden.
Dies bedeutet allerdings keinen Freibrief für einen einzelnen Staat, sich aufgrund seiner militärischen Überlegenheit eigenmächtig als Weltpolizist zu betätigen und unter diesem Deckmantel die Dinge nach seinem Gutdünken zu „ordnen“, wie es in der Vergangenheit leider immer wieder geschehen ist. Ein Polizist handelt nicht im eigenen Auftrag und nach eigenem Gutdünken. Er handelt im Auftrag einer übergeordneten Instanz, letzten Endes des Souveräns, des Volkes, und er ist an ein Recht und Gesetz gebunden, das er nicht selbst macht. Polizeiaktionen auf internationaler Ebene können nicht im Mandat eines Einzelstaates liegen, sondern müssen auf ein Mandat der Vereinten Nationen hin erfolgen und sich an von diesen vorgegebene Regeln halten. Die Vereinten Nationen müssen dafür mit den notwendigen Kompetenzen ausgestattet werden.
Und nicht zuletzt müssen wir – und hier komme ich wieder auf Jeremia zurück und seine Warnung vor militärischem Denken – die sehr, sehre begrenzte positive Wirkung eines Krieges bedenken. Ein Krieg hilft vielleicht, eine Bösewicht auszuschalten. Aber ein Krieg schafft niemals für Frieden und Gerechtigkeit. Die friedliche Weltordnung kann nicht herbeigebombt werden. Im Gegenteil: Krieg zerstört viel, und Krieg fördert eher den Hass und die Aggressionen. Hat der Bombenkrieg gegen Jugoslawien irgendein Problem gelöst? Ist der Kosovo friedlicher geworden, vertragen sich Albaner und Serben jetzt besser? Krieg führt nicht zum Frieden. In diesem Sinne würde Jeremia, der damals davor warnte, sein Vertrauen auf Rosse und Streitwagen zu setzen, uns heute davor warnen, unser Vertrauen auf Bomben zu setzen. Glauben wir nur nicht, dass, wenn nun vielleicht die Herrschaft der Taliban bald gebrochen ist, Frieden in der Welt einkehrt. Der Weg zum Frieden ist viel, viel länger, er erfordert eine Umkehr aller Beteiligten, ein Umdenken in vielen Köpfen, sicherlich in der arabischen und der islamischen Welt, wo man zu kritischer Selbsterkenntnis bislang nicht in der Lage ist und in allem immer nur eine Verschwörung des Westens sieht, aber auch bei uns. Wenn wir Frieden wollen - wenn wir wirklich Frieden wollen – dann muss dieses Ziel oberste Priorität haben vor allen anderen Interessen, auch vor wirtschaftlichen, dann muss Schluß sein mit dem Geldverdienen am Unfrieden und der bequemen und einträglichen Kumpanei mit Tyrannen, und dann muss Schluss sein mit unserem frivolen und provozierenden Lebensstil auf Kosten anderer. Billiger ist der Frieden nicht zu haben.
Ich denke, so oder so ähnlich würde Jeremia heute zu uns reden. Würden wir auf ihn hören? Würde er bei uns offenere Ohren finden als bei seinen Zeitgenossen? Vielleicht würden wir uns genauso an ihm ärgern, wäre er ein ebenso einsamer Rufer in der Wüste. Wie es fast alle sind, die heute zur Umkehr rufen. Aber wer sein Volk liebt, der wird auch heute, ebenso wie Jeremia, gar nicht anders können als es zur Umkehr rufen, egal, wie groß seine Chancen sind, gehört zu werden. Und auch heute werden die, die zur Umkehr rufen, die sein, die ihr Volk am meisten lieben.
Einen Unterschied haben wir im Vergleich zu Jeremia: Er hatte es nicht in der Hand, sich für Krieg oder Frieden zu entscheiden. Dies war die Entscheidung des Königs.
Wir heute können etwas tun. Ich kann an meinem Lebensstil etwas ändern, wir alle können unseren Krieg gegen die Umwelt zumindest reduzieren. Wir alle könne darüber entscheiden, ob wir bereit sind, etwas weniger zu verdienen, damit mit unseren Waffen nicht länger der Tod über andere kommt. Wir können entscheiden, welche Forderungen wir an unsere Politiker stellen, die immerhin – im Gegensatz zu König Zedekia – alle vier Jahre wiedergewählt werden und sehr sensibel auf Umfrageergebnisse reagieren. Verlangen wir von ihnen immer die kurzfristige Befriedigung unserer momentanen Interessen, oder haben wir etwas mehr im Blick – verlangen wir einen möglichst günstigen Spritpreis oder, dass sie etwas für den Schutz unserer Umwelt und die Erhaltung der Lebensgrundlagen aller tut? Kommt uns der Gedanke, die Straßen, wenn schon, eben nicht für nur für günstiges Benzin zu blockieren, sondern vielleicht auch einmal für die Entschuldung der ärmsten Länder oder für einen Erfolg beim nächsten Weltklimagipfel?
Gewiss, der Weg der Umkehr, der Weg zu einer friedlichen Weltordnung ist weit. Aber gerade als Christen wissen wir, dass gerade die weiten Wege die besonders wichtigen sind, und wir haben die Hoffnung, dass wir auch die weitesten Wege gehen können, weil es nicht allein an unsere menschlichen Kraft liegt. Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt.

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