Predigt in der Schlosskirche am Allianz-Gottesdienst 23. September 2001

Text: Lukas 17, 5f.

Die Apostel baten den Herrn: Stärke unseren Glauben! Der Herr erwiderte: Wenn euer Glaube auch nur so groß wäre wie ein Senfkorn, würdet ihr zu dem Maulbeerbaum hier sagen: heb dich samt deine Wurzeln aus dem Boden und verpflanz dich ins Meer!, und er würde gehorchen.


Liebe Gemeinde,

“stärke unseren Glauben!“ ist die Bitte der Jünger an Jesus. Es ist die Bitte der Christen über all die 2000 Jahre Christentumsgeschichte hinweg. Auch wir bitten darum, lechzen oft geradezu danach, dass er unseren Glauben stärken möge. Gerade jetzt unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse in den USA. Können wir noch an einen guten und barmherzigen Gott glauben, können wir überhaupt daran glauben, dass es ihn gibt und dass er gar im Regiment sitzt in dieser Welt? Wird diese Welt nicht vielmehr vom Teufel geritten? Was sagen wir den Angehörigen all der Opfer, welche Erklärung, welche theologischen Gedanken, welchen Trost haben wir zur Hand?
Manchmal müssen wir uns eingestehen, dass wir in einer trostlosen Welt leben, in der wir für bestimmte Dinge keine Erklärungen zur Hand haben und eine ähnliche Gottverlassenheit empfinden wir Jesus am Kreuz. Dann können wir nur danach fragen, was uns hilft, was uns stärkt, diese Zeiten zu bestehen.
Ich bin mir sicher, die Zeiten, in denen Lukas sein Evangelium schreibt und die Lage derer, für die er schreibt, ist von der unsrigen gar nicht so verschieden. Es ist eine kleine Minderheit von Christen im Römischen Reich, verfolgt, den herrschenden Römern ausgeliefert. Die Schreckensjahre Neros sind gewiss noch im Gedächtnis, als die Christen in Rom den Launen dieses geisteskranken Tyrannen hilflos ausgeliefert waren, auf seinen Wink hin jederzeit den wilden Tieren vorgeworfen oder an brennende Kreuze genagelt werden konnten. Sie sahen Rom in Flammen und einen Kaiser, der dazu die Laute schlug und den Brand Trojas besang. Auch nach dem Tode Neros hatte sich die Lage der Christen nicht grundlegend gebessert.
Und wenn ich mir nun vor Augen halte, dass die Texte des Neuen Testaments vor allem für solche Menschen geschrieben wurden, um sie in ihrem Glauben zu stärken, dann erschließt sich mir die Bedeutung so vieler Worte und Berichte. Die Jünger, die gemeinsam in einem Boot sitzen und im Sturm unterzugehen drohen; Petrus, der ausprobiert, ob das Wasser trägt und durch seinen Kleinglauben unterzugehen droht. Die heilige Familie, auf der Flucht vor den Häschern dieser Welt.
Die Christen machten in diesen Verfolgungssituationen sicher nicht immer eine glänzende Figur, glichen oft eher Petrus, der seinen Herrn verleugnete oder wegen seines Kleinglaubens fast unterging. Und oft spürten sie sicher lange Zeit nichts von der Hilfe und dem Beistand Gottes, wie die Jünger, die die ganze Nacht über vergeblich hinausfuhren auf den See.
Aber ihnen allen war wohl die Erfahrung gemeinsam, dass sie in der Morgendämmerung erkannten, dass Jesus die ganze Zeit in ihrer Nähe gestanden hatte. Das heißt: Die Erfahrung, dass Gott in all den Schwierigkeiten bei ihnen war. Dass er ihnen die Schwierigkeiten nicht fein säuberlich aus dem Weg räumte, aber sie zu bestehen half, dass sie mit ihm auf jeden Fall besser durch all die dunklen Nächte hindurchkamen als ohne ihn.
Und auf einmal begreife ich: Der christliche Glaube ist in eben solchen Situationen gewachsen. Er war noch nie ein Schönwetterglaube, noch nie eine kleine, fromme Zugabe für das beschauliche Leben der Erfolgreichen und Wohlhabenden, noch die Sahne auf den Kuchen des Lebens. Er ist vielmehr so etwas wie die eiserne Ration für die Momente, wo wir zusammenzubrechen drohen. Er hat seine Heimat in den äußersten Tiefen des Lebens – dort, wo wir durch finstere Täler wandern. Dort wird er gebraucht, und dort wächst er, wie ein Mensch, der wächst mit den Anforderungen, die an ihn gestellt werden. Er tritt oft nicht dramatisch in unser Leben; nicht immer können wir ein Datum für ein Bekehrungserlebnis nennen. Er ist vielleicht zunächst einmal ganz klein und unbemerkt da – wie Jesus, der die ganze Nacht in der Nähe stand, ohne dass es die Jünger in ihrem Boot bemerkten. Erst nach einiger Zeit, manchmal vielleicht erst im Rückblick auf gewisse Situationen und Stationen des Lebens, wird uns unser Glaube bewusst und was er uns bedeutet (hat). Er ist wie ein Senfkorn – klein und unscheinbar am Anfang, aber darin liegt etwas verborgen, etwas, das wachsen und groß werden kann. So wie in Petrus, der zunächst so wenig Glauben und so wenig Mut zu haben scheint, in dem aber etwas wächst und der zu einem der bedeutenden Apostel werden kann, der andere im Glauben stärkt.
Ähnlich wie im ersten Jahrhundert ist es Christen auch später immer wieder ergangen. Die Zeit des Türkensturms auf dem Balkan, die Pest, die im 15. Jahrhundert ein Drittel der Menschen in Europa dahinraffte – sie waren Zeiten, in denen die Menschen nach Gott schrien. Auch zu Martin Luthers Zeiten herrschte eine ausgeprägte Weltuntergangsstimmung. Sie war es, die Luther nach Halt im Glauben suchen ließ, die ihn geradezu versessen darauf machte, es immer noch genauer wissen zu wollen. Und es war sicher nicht am Anfang seines Glaubenslebens, aber dann doch in einem fortgeschrittenen Stadium, als er sagen konnte: „Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, so würde ich doch heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen.“
Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, der Tod eines großen Teils seiner Familie haben in Paul Gerhard den Glauben wachsen lassen, von dem seine Lieder Zeugnis ablegen. Aber auch das hat seine Zeit gebraucht. Wenn wir die Entstehungsjahre der Lieder sehen, so sind sie nicht im Strudel der Ereignisse geschrieben, sondern erst Jahre danach, als das Senfkorn aufgegangen war.
Auch das Dritte Reich war eine Zeit, in der viele das Gefühl haben mussten, dass die Welt völlig aus den Fugen geraten war. Diese tiefste Not ließ in einem Menschen wie Paul Schneider oder Dietrich Bonhoeffer den Glauben wachsen und groß werden. Auch bei ihnen kam das nicht über Nacht, auch sie hatten ihre Fragen und Zweifel. Bonhoeffer gibt uns Einblick in den Schriften von ‚Widerstand und Ergebung’. „Gott, hilf mir beten“ schreibt er hier, und „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.“ Aber dieses kleine Senfkorn wächst – gerade in der tiefen Not der Gefangenschaft und Todesgefahr – und wird so groß und kräftig, dass er an Silvester 1944/45 sein Gedicht „Von guten Mächten“ schreiben kann – immer noch im Gefängnis und dem Tod näher als zuvor.
So ist das – das Senfkorn – der Glaube - braucht seine Zeit, um aufzugehen, und vielleicht liegen Zweifel und Gewissheit ein Leben lang dicht beieinander. Auch für uns heute, wenn wir versuchen, mit den schrecklichen Bildern des 11. September fertig zu werden, wenn wir die niederschmetternde Nachricht erhalten, dass unsere Erkrankung bösartig ist, wenn wir einen Menschen an unserer Seite in unbegreiflich jungem Alter verloren haben. Jeden können solche Schicksalsschläge treffen. Die Frage ist, wie wir mit ihnen leben können. Vielen Menschen war und ist der Glaube dabei eine Hilfe, der gerade in diesen Lebenslagen aufgeht wie ein Samen und groß werden kann – das Wissen und die Erfahrung: Ich bin nicht allein; Jesu Wort gilt gerade für diese Tage: Ich bin bei dir alle Tage bis ans Ende der Welt.

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