Predigt beim Gottesdienst für die Terroropfer des 11. September 2001

Schlosskirche Winnenden, 13.9.2001


Wir alle sind hier zusammengekommen, weil wir betroffen, ja, mehr noch: bestürzt und fassungslos sind. Die Bilder des Grauens gehen uns wieder und wieder durch den Kopf. Auch vorher haben wir schon das Böse in der Welt beklagt, doch wir empfinden alle: mit dem 11. September ist eine Grenze überschritten worden, nach der die Welt nicht mehr so ist wie zuvor. Was geschehen ist, übertrifft unsere Vorstellungskraft. Wir benötigen keine virtuellen Welten und keine Computersimulationen mehr; die Wirklichkeit übertrifft jede menschliche Fantasie.
Fassungslosigkeit, Wut und auch Angst erfüllen uns. Wie sicher sind unser Hochhäuser, unsere Flugzeuge, unsere Atomkraftwerke?
Ohnmächtige Wut erfüllt uns darüber, dass das Böse wieder einmal so mächtig werden darf. Immer wieder haben wir den Traum gehegt, dass das Böse überwunden ist und wir zumindest einer friedlicheren Welt entgegengehen – nach der Niederwerfung des Nationalsozialismus, nach dem Mauerfall und dem Ende des kalten Krieges, mit dem Beginn des neuen Jahrtausends... Nun ist diese Hoffnung zerstoben, und wir sehen uns mit der Wirklichkeit konfrontiert, dass das Böse unverändert mächtig ist unter uns.
Was geschehen ist, ist durch nichts zu rechtfertigen, auch nicht das allergerechteste Anliegen. Wir sind fassungslos und fragen uns: was sind das für Menschen, die so etwas tun? Wozu kann man Menschen abrichten, wen man sie nur mit der entsprechender Ideologie füttert?
Wir kommen zusammen und spüren dadurch: Ich bin nicht allein mit meiner Trauer und Bestürzung, mit meiner Wut und mit meiner Angst.. Wir kommen zusammen und sagen damit den Opfern: Ihr seid nicht allein. Und wir kommen zusammen und sagen den Tätern, und überall, wo in diesen Tagen Menschen in dieser Welt zusammenkommen, sagen wir es den Tätern: Eure Taten werden nicht zum Erfolg führen, denn Ihr steht allein; mit jeder Bluttat isoliert Ihr Euch nur mehr vom Rest der Menschheit, denn ihr tretet alles mit Füßen, was für unser Zusammenleben wichtig ist.
Und wir denken auch, wenn wir jetzt zusammenkommen, an all jene Völker, die bereits seit Jahren permanentem Terror ausgesetzt sind, auch wenn diese Akte nicht so viele Menscheleben auf einmal forderten - an die Menschen in Spanien, in Kolumbien oder in Kaschmir.
Wir können verschieden auf das Grauen reagieren, das am 11. September geschehen ist. Vielleicht verzweifeln wir an Gott und unserem Glauben – wo ist er denn, dass er dies nicht verhindert hat – wer regiert denn nun diese Welt – Gott oder das Böse? – und wir fühlen vielleicht eine ähnliche Gottverlassenheit wie Jesus am Kreuz..
Vielleicht erinnern wir uns aber auch daran erinnern, dass unser christlicher Glaube noch nie ein Schönwetterglaube war. Er entstand unter Christen, die unter einem geisteskranken Nero jeden Tag den Tod vor Augen haben mussten, den wilden Tieren vorgeworfen oder an brennende Kreuze genagelt wurden, die Rom brennen und den Kaiser dazu die Laute schlagen und den Brand Trojas besingen sahen. Auch sie müssen bereits im ersten Jahrhundert das Gefühl gehabt haben, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Unter ihnen, in den äußersten Tiefen des Lebens, ist der christliche Glaube gewachsen, ihnen ist er zur großen Hilfe geworden, sie haben die Erfahrung gemacht, dass Gott auch in dieser Situation bei ihnen war und ihnen half, durch den Tunnel zu gehen – in dem Wissen, dass es ein Licht am Ende gibt. Dieses Wissen wünsche ich uns allen. Und ich wünsche mir, dass wir uns als Christen nicht verstecken, sondern zu erkennen geben. Die Ereignisse zeigen: diese Welt braucht mehr denn je uns Christen, braucht Menschen, die nicht in beschämender Kleinmütigkeit sich gegenseitig bekämpfen wie in Nordirland, sondern die sich über alle Bekenntnis- und Nationalitätengrenzen hinweg die Hand reichen und alles geben für eine friedlichere Welt. Wir werden gebraucht, damit bei aller Empörung nicht blindwütiger Hass die Oberhand gewinnt, damit der Terror entschieden, aber auch besonnen bekämpft wird. Damit wir alles tun, um das, was zwischen Völkern steht und Hass hervorruft, beiseite zu räumen, damit wir sensibler werden für alle Orte, an den Menschen Unrecht erleiden. Denn die Ereignisse lassen mich auch fragen: waren wir in den vergangenen Jahren immer aufmerksam genug für das Unrecht anderer Menschen und Völker oder haben wir ihnen nicht oft erst dann Beachtung geschenkt, wenn Bomben barsten? Diejenigen, die bis heute mit friedlichen Mitteln auf erlittenes Unrecht hinweisen – Tibeter, Saharauis, Indianervölker – haben wir ihnen diese Friedfertigkeit nicht oft genug mit Gleichgültigkeit gedankt?
Gewalt darf keine Chance haben. Es darf auch nicht der Eindruck entsehen, man könne in dieser Welt mit Gewalt und nur mit Gewalt etwas erreichen. Das heißt aber auch: Der gewaltlose Ruf nach Gerechtigkeit muss gehört werden.
Wir wissen nicht, was vor uns steht. Eines aber wissen wir als Christen: Gott lässt uns nicht allein in dieser schweren Stunde. Der Gott, der seine Christenheit über 2000 Jahre begleitet hat, steht zu uns. Er ist uns nahe, selbst dann, wenn wir ihn ferne glauben. Das sollten wir der Welt zeigen. Sie braucht es.

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