Predigt beim ökumenischen Gottesdienst zur Jahrtausendwende in Winnenden, Marktplatz, 31. Dezember 1999
Text: Jesaja 60, 1+2
Auf, werde Licht, denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir.
Denn siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker,
doch über dir geht leuchtend der Herr auf, seine Herrlichkeit erscheint über dir.
Liebe Mitchristen,
Worte eines Propheten. Worte eines Propheten an sein Volk in einer besonders schweren Zeit. In einer Zeit größter Verunsicherung und existentieller Zukunftsangst. Israel befindet sich in babylonischer Gefangenschaft - das bedeutet, als kleine, machtlose Minderheit im fernen Babylon gefangen sein, ohne Aussicht, sein Schicksal ändern, wieder die Freiheit erlangen zu können. Wie wird die Zukunft dieses kleinen und gebeutelten Volkes aussehen? Ist denn nicht alles, woran sie jahrhundertelang geglaubt haben, widerlegt, zusammengebrochen, haben sich nicht die Götter der Babylonier als stärker erwiesen? Ist es nicht eine Trugvorstellung gewesen, an den Gott der Väter zu glauben und an seine Gegenwart und seine Hilfe? Haben denn nicht die Zyniker und all die Gegner des Jahweglaubens recht behalten? Der Katastrophe der Unterwerfung folgt die totale Verunsicherung gefolgt. Verunsichert sind die Menschen, an was sie noch glauben sollen, wo es überhaupt langgehen soll. Vielleicht haben sie überhaupt keine Zukunft mehr, vielleicht werden sich schon ihre Kinder an ihre Umgebung anpassen und damit das Volk aufhören zu existieren. Wirklich - Dunkel bedeckt für sie die Erde, das Leben.
Es ist diese Situation, in die der Prophet dieses ungeheure Wort der Hoffnung, das Zusage und Aufforderung zugleich ist: „Auf, werde Licht, denn dein Licht kommt.“ Er sagt: Du hast Zukunft, du brauchst nicht zu verzweifeln, dein Schicksal wird sich zum Guten wenden, in gar nicht allzu ferner Zukunft. Gott wird es wenden, wie er in den folgenden Worten sagt: „Die Herrlichkeit des Herrn geht leuchtend auf über dir.“ Und dieses Licht, das du kommen siehst, sollst du weitergeben, sagt Jesaja, das sollst du und kannst du jetzt schon widerstrahlen wie ein Spiegel mit deiner Persönlichkeit, mit deinem Leben. Das ist deine Bestimmung, das ist deine große Fähigkeit, Israel. Verzweifle also nicht und versteck dich nicht in der Dunkelheit.
Das ist schon ein ungeheures Wort. Nichts, aber auch gar nichts deutet in diesem Moment darauf hin,, dass dieser Prophet recht hat. Als einen frommen Spinner werden ihn viele abgetan haben. Seien wir uns darüber im klaren: er hatte überhaupt keinen Beweis dafür in der Hand, dass das stimmt, was er da sagt, dass sich Israels Schicksal wirklich zum Guten wendet.
Aber Israel hat seine Worte beherzigt. Seine Zusage hat seinem Volk Mut gemacht, nicht zu verzweifeln und Licht zu sein in seiner Zeit und seiner Umgebung,
Vielleicht empfinden wir heute ähnlich wie die Israeliten damals - alles ist dunkel, wir hören nur Schreckensmeldungen, die Zukunft ist ungewiss, sie ist so stark im Umbruch, dass wir nicht wissen, was der morgige Tag, geschweige denn das neue Jahrtausend bringen wird. Als Christen fühlen wir uns oft wie eine Minderheit in einer fremden und feindlichen Umgebung. Gerade auch zur Jahrtausendwende haben sich wieder Zukunftsängste bemerkbar gemacht. Nicht wenige sind von dem Gedanken umgetrieben, ob mit der Jahrtausendwende eine große Katastrophe, ja vielleicht das Ende dieser Welt verbunden ist.
Das Wort des Propheten gilt auch uns. Gerade uns, die wir uns im Dunkel fühlen. Auch uns gilt - und das ist ja auch die Botschaft von Weihnachten: Dein Licht kommt. Auch wenn wir noch gar nicht sehen, wie, auch wenn das Zukunftsmusik ist. Gott wird ein Licht aufgehen lassen.
Und in der Erwartung dieses Lichts können wir selbst Licht werden, oder sagen wir: das Licht, das wir erwarten, jetzt schon ausstrahlen, widerspiegeln. Hoffnung verwandelt. Wo wir Hoffnung haben, mit Gottes Eingreifen in dieser Welt rechnen, da wird uns das verwandeln, da wird man uns das anmerken. In diesem Sinne können auch wir Licht werden. „Auf, werde Licht, denn dein Licht kommt“.
Was heißt „Licht werden“?
Licht werden heißt, sich nicht seiner dunklen Umgebung anpassen. Heißt, nicht selbst das Dunkle noch verschlimmern, auch nicht, seine Energie im Schimpfen über das Dunkel zu verbrauchen. Es heißt, ein Licht anzünden. Es für mich, aber auch für andere etwas helle machen. Nicht danach fragen, ob andere es verdient haben, ob man es mir danken wird. Einfach ein Licht anzünden.
Für Israel in der babylonischen Gefangenschaft bedeutete es, das, was ein anderer Prophet, nämlich Jeremia, sagte: „Suchet der Stadt Bestes.“ Obwohl ihnen vieles an dieser Stadt nicht geheuer, obwohl ihnen vieles unsympathisch war, obwohl sie mit vielem nicht übereinstimmen konnten. Trotzdem: nicht schimpfen, nicht sich einigeln, nicht in destruktiver Antihaltung verharren, sondern der Stadt Bestes suchen.
Dies wird immer die Aufgabe von Christen sein. Auch im neuen Jahrtausend. Licht sind wir nicht, indem wir uns abkapseln, indem wir schimpfen, uns weit erhaben fühlen über unsere dunkle Umgebung. Licht sind wir, indem wir auch hier in Winnenden, in Deutschland und wo immer wir leben, der Stadt Bestes, des Landes Bestes, ja der Welt Bestes suchen.
Verbunden mit dieser erstaunlichen Bereitschaft, sich positiv zu engagieren in dieser Umgebung, die es versklavt und verschleppt hat, ist aber bei den Israeliten eine gründliche Neubesinnung. Man gibt die eigenen Glaubenstraditionen nicht aufgegeben. Man wählt nicht einfach den bequemsten Weg und verehrt die scheinbar mächtigeren Götter der Zeit, die Götter der Babylonier. Man besinnt sich auf die eigenen Tradition. Selbstkritisch fragen die Menschen, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte. Und sie suchen Schuld nicht billig bei irgend welchen anderen, machen nicht rasch ein paar Sündenböcke aus, sondern sie werden sich bewusst, dass sie als Volk falsche Wege gegangen sind, Wege, von denen sie eigentlich wissen mussten, dass sie verhängnisvoll sind. Da hat sich in der letzten Phase der Unabhängigkeit soziale Ungerechtigkeit breit gemacht; Israeliten haben Israeliten ausgebeutet, man verstand sich immer weniger als Gemeinschaft, sondern einer versuchte, es auf Kosten des anderen zu etwas zu bringen, und die Kluft zwischen Arm und Reich war immer größer geworden. Man war nicht mehr interessiert am Frieden, sondern in einem Anfall von Nationalismus und Verblendung hatte man sich auf den Krieg mit Babylon eingelassen. Wir sind doch das erwählte Volk, wer kann schon uns etwas anhaben! Ein fatales neues Denken hatte langsam, aber sicher Einzug in die Köpfe gehalten wie eine schleichende Krankheit, ein Denken an den eigenen Vorteil, ein materielles Denken, das alles in klingender Münze aufgewogen haben wollte. Ein Amt zu bekleiden war kein Dienst an der Allgemeinheit mehr, es war etwas, das sich lohnen musste, auch finanziell.
Wohl, an warnenden Stimmen fehlte es nicht. Propheten warnten vor den Folgen dieser Entwicklung. Aber hörte man auf sie? Waren sie nicht weltfremde, religiöse Spinner, ärgerliche Moralisten, die sich dem Fortschritt, der neuen Zeit entgegenzustellen versuchten? Mussten sich denn nicht die Dinge ändern, jetzt, wo Israel nicht mehr ein loser Stämmeverband, sondern ein moderner Verwaltungsstaat war bzw. werden sollte?
Aber die Propheten behielten recht. Und nun, in der babylonischen Gefangenschaft, erinnert man sich wieder an ihre Worte und schreibt sie auf. Und das, was wir heute das Alte Testament nennen, ist überhaupt erst in dieser Zeit und unter diesen Bedingungen entstanden. So hatte auch diese ganz schwere Zeit ihren Sinn und ihr Gutes. Das Volk Israel hat sie genutzt zur schonungslosen, selbstkritischen Neubesinnung. Nicht zu einem Zurück zu guten alten Zeiten, die es nie gegeben hat. Aber dazu, sich wieder klar zu werden über die eigenen Wurzeln und die Überzeugungen, die sie leiten, die ihr Zusammenleben bestimmen und ihnen Mut zum Leben machen sollen.
Das heißt - und dies ist für uns und sicher für Christen aller Zeiten wichtig - die Israeliten sehen ihren Beitrag zum Wohl des Gemeinwesens, in dem sie leben, zum Wohl ihrer Zeit nicht darin, sich kritiklos dieser Zeit anzupassen. Sondern in vieler Hinsicht gerade darin, ihre oft andersartigen Überzeugungen zu leben und in dieses Gemeinwesen einzubringen.
Ebenso wird der wichtigste Beitrag der Christen zum Gemeinwohl im neuen Jahrtausend und zu allen Zeiten eben nicht darin liegen, dass wir uns kritiklos unserer Umgebung anpassen und uns dem Zeitgeist angleichen. Es ist ja eine Lehre gerade unseres Jahrhunderts, dass gerade dort, wo wir mit den Wölfen heulen, uns hinterher am sichersten zum Heulen ist. In diesem Jahrhundert hat sich wiederholt die Frage gestellt, ob sich Menschen dem Diktat totalitärer Ideologien unterwerfen. Heute stellt sich die Frage, ob wir uns dem völligen Diktat des Marktes und des Neoliberalismus, dem Wahn unbegrenzten Profits und unbegrenzter wirtschaftlicher Macht für ein paar wenige unterwerfen. Der Stadt Bestes suchen, Licht werden wir sicher nicht, indem wir uns anpassen oder indem wir uns versteckt halten. Sondern indem wir uns einbringen, werbend und einladend unsere Überzeugungen leben und notfalls auch für sie streiten. Und dies ist dann auch kein Hindernis, sondern eine Voraussetzung für etwas, was auch für das Wohlergehen in unserem neuen Jahrtausend unabdingbar sein wird: die Toleranz. Denn nur wo wir selbst auf dem Boden klarer Überzeugungen stehen, können wir auch andere Überzeugungen achten. Nur von einem festen Standbein aus kann ich auf andere zugehen.
Das Großartige ist: Jesajas Prophezeiung erfüllt sich tatsächlich! Rund fünfzig Jahre nach der Gefangennahme werden die Israeliten vom Perserkönig Kyros befreit und können wieder heimkehren. Der Prophet behält recht behalten, nicht die Schwarzseher und „Realisten“. Und für die Israeliten ist damit klar: Gott hat eingegriffen. Der Gott, der sein Volk niemals im Stich lässt. Der es damals aus der Gefangenschaft in Ägypten befreit hat und der aus nun aus der babylonischen befreit und wieder in die Heimat zurückkehren lässt. Der Gott, der uns in Jesus ganz nahe wird, von Mensch zu Mensch. Der in dessen Gestalt unzähligen Menschen hilft, dort, wo Menschen keine Hilfe und keine Möglichkeit mehr sehen. Der in Jesus den Tod besiegt und durch den Auferstandenen uns die Worte hinterlässt: „Ich bei euch bis ans Ende der Welt“.
Das gilt auch jetzt noch. Das gilt auch für das dritte Jahrtausend, ja, für alle Zeiten. Das wird nie gegenstandslos, das wird nie veraltet und unwichtig werden. Wo die Zeit fortschreitet, wo die Dinge sich in rasendem Tempo verändern, da bleibt das fest: Gott steht an unserer Seite. Die Welt und wir sind nicht uns selbst überlassen, die Welt geht nicht zum Abgrund und wird nicht vom Teufel regiert. Unser Licht kommt, kommt immer wieder aufs Neue. Gott greift immer wieder ein in dieser Welt. Auch in den dunklen Dingen und Lebensabschnitten, die uns heute noch bedrücken.
Beispiele dafür gibt es. Dass wir hier stehen als Vertreter dreier Konfessionen wäre vor hundert Jahren noch undenkbar gewesen. Dass Deutschland heute vereint ist, hätte bis ein Jahr vor dem Mauerfall niemand für möglich gehalten. Dass Europa sich vereint, dass Deutsche und Franzosen Freunde sind, die sich fünfhundert Jahr lang bekriegten, das ist - trotz aller Details, die man kritisieren kann - ein Wunder.
Nicht alles wendet sich so offensichtlich zum Guten. Nicht immer wird Gottes Gegenwart so deutlich spürbar sein im Gang der Geschichte, und ganz gewiss ist er auch nicht nur in den Zeiten des Erfolgs gegenwärtig. Aber die genannten Ereignisse sind doch ermutigende Beispiele dafür, dass sich Dinge zum Guten wenden können, wo wir es gar nicht für möglich halten, dass es wirklich Licht werden kann, wie der Prophet sagt, dass nämlich Gott gegenwärtig ist und dass wir nicht uns selbst überlassen und dem Untergang geweiht sind. Das ist unser Wissen, mit dem getrost und zuversichtlich ins neue Jahrtausend gehen können, denn das wird so bleiben, auch im dritten Jahrtausend und in allen Zeiten, die noch kommen.
In diesem Sinne lasst uns auch in der neuen Zeit - und in ihr vielleicht noch mehr - Licht sein, jeder mit seinem Leben und seinen Gaben und Fähigkeiten. Licht, das Mut macht und das Dunkel vertreibt.
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