Predigt beim ökumenischen Gottesdienst in der Partnergemeinde Santo Domingo am 18.4.1998

Text: Joh 29, 19-31. Jesus und Thomas


Liebe Schwestern und Brüder,

ich soll ein paar Worte zu Thomas sagen.
Thomas - das ist für uns gewöhnlich der Ungläubige, den wir mit Geringschätzung betrachten.
Aber .selbst wenn das so ist, sollten wir vorsichtig sein. Denn Thomas, das sind wir alle - wir alle haben unsere Zweifel, und wir alle verlangen immer wieder Beweise; wir glauben nicht sofort alles, wenn uns jemand etwas erzählt. Auch wir glauben, was wir mit Händen greifen können. Immer wieder höre ich von Menschen, dass sie so lange nicht an Gott glauben können, solange er ihnen seine Existenz nicht durch etwas Handfestes beweist. Also: Thomas - das sind wir alle.

Mir ist dieser Thomas aber gar nicht so unsympathisch. Er ist offensichtlich der Jünger mit den tiefsten Gefühlen. Nein, er kann nicht so einfach umschalten von der Trauer zur Freude. Sein Schmerz um Jesus geht so tief, dass er anfangs nicht mit den anderen Jüngern zusammen ist. Und für irgendwelche Späße mit dem Tod seines Herrn und Meisters ist er schon gar nicht zu haben. Auch uns geht das wohl manchmal so: bei etwas, was uns besonders nahe geht, sind wir besonders vorsichtig. Da können wir nicht gleich “hurra” schreien, weil wir Angst haben, enttäuscht zu werden. Thomas ist also nicht der, der Jesus ferne steht, sondern vielleicht der, der ihm gefühlsmäßig näher steht als alle anderen.

Und dann ist da Jesus. Mir gefällt sein Verhalten in der Geschichte. Er hätte sagen können: das ist dein Problem, Thomas, wenn du so nicht glauben kannst oder willst, du musst schon wie alle anderen glauben, ohne mich zu berühren. Aber nein. Er geht auf Thomas ein. Thomas darf ihn anfassen. Er darf auf seine Art und Weise zum Glauben an ihn finden. Und dieser Weg führt zum vielleicht klarsten und entschiedensten Bekenntnis , das ein Jünger zu Jesus gesprochen hat: „Mein Herr und mein Gott!”
Und es war dann dieser Thomas, von dem die Legende erzählt, dass er bei seiner Predigt des Evangeliums bis nach Indien gelangte, das heißt, er hat weitere Wege als alle anderen zurückgelegt, größere Anstrengungen und Entbehrungen als alle andere Jünger auf sich genommen, um die frohe Botschaft von seinem Herrn zu verbreiten. Thomas ist deshalb nicht der schlechtere Apostel, sondern durchaus ein Vorbild für uns.

Und so, wie Jesus verschiedene Wege zugelassen hat, zum Glauben an ihn und seine Auferstehung zu finden, so wird es immer und darf es immer unterschiedliche Wege geben, um zum Glauben zu finden, durch eine plötzliche Bekehrung oder eine allmähliche Entwicklung, durch das Studium der Schrift oder anderer Bücher oder die persönliche Begegnung. Und wenn für jemand das Vorbild eines Heiligen eine Hilfe ist, um Jesus zu erkennen, dann hat auch dies seine Berechtigung.

Jesus kommt zu allen 11 Jüngern, die noch am Leben sind. Sie waren keine großen Helden. Während der Zeit mit ihm haben sie viele Fehler begangen und waren oft schwach. Jesu Worte haben sie oft nicht verstanden, und unter dem Kreuz waren sie nicht zu finden, da haben nur die Frauen ausgehalten. Petrus leugnete in der Passionsgeschichte sogar, ein Jünger zu sein.

Das Schöne ist, dass Jesus zu ihnen allen kommt. Für sie ist er auferstanden. Niemand ist zu unwürdig. Und er kommt für diese Jünger, die so grundverschieden sind und die immer wieder gestritten haben, wer der Größte ist.

Und das heißt für mich: er kommt auch zu uns und für uns, Christen aus Santo Domingo und aus Winnenden, Christen der katholischen und der evangelischen Kirchen, mit all unseren Fehlern und Grenzen, mit unserer oft wenig rühmlichen Geschichte und mit all unseren Verschiedenheiten. Und so, wie Jesus Thomas einen anderen Weg erlaubt hat, ihn zu erkennen, wie den anderen, so kann es auch für uns verschiedene Wege geben, zu ihm zu finden. Natürlich kann es katholische, methodistische und lutherische Wege geben, Jesus zu erkennen und mit ihm in Verbindung zu treten. Wichtig ist nur, dass sie zu Jesus führen und in das Bekenntnis des Thomas münden: „Mein Herr und mein Gott!”

Die Geschichte mit Thomas ist eine schöne Geschichte, wo ein Mensch ganz neue Erfahrungen macht, die er nicht für möglich gehalten hätte. Nein, dass dieser Jesus, der so qualvoll am Kreuz starb, lebt und dass er seine Hand berühren kann, das hätte Thomas nicht, das hätte niemand für möglich gehalten.

Bei Gott ist alles möglich, will diese Ostergeschichte sagen. Was tot ist, kann zum Leben erwachen. Was wir nie für möglich halten, kann möglich werden. Über Jahrhunderte hinweg haben wir uns in Europa bekriegt, noch in diesem Jahrhundert in fürchterlicher Weise in zwei Weltkriegen. Meine Eltern haben noch in der Schule gelernt: Zwischen Deutschen und Franzosen kann es niemals Frieden geben. Heute sind wir Freunde. Früher haben sich Katholiken und Evangelische auf den Tod bekriegt; hier in Spanien wurden Protestanten verbrannt. Niemals hätten unsere Vorfahren es sich vorstellen können, dass es zwischen uns drei Kirchen heute eine ökumenische Zusammenarbeit gibt, niemals hätten sie es für möglich gehalten, dass katholische und evangelische Kirchenvertreter hier in Santo Domingo als Geschwister und als Freunde zusammen kommen und evangelische Geistliche sogar in dieser Kathedrale in einem Gottesdienst mitwirken. Deshalb sind diese Tage für mich wie das Berühren der Hände des Auferstandenen. Wir erleben es, wir können es geradezu mit Händen greifen: Neues ist möglich. Gottes Kraft kann wirklich die Menschen und diese Welt verändern.

Thomas hat nicht nur die Hände, sondern auch die Wunden des Herrn berührt. Wenn wir versuchen, zusammenzufinden, werden wir dabei auch immer wieder an die Wunden erinnert, die die Vergangenheit schlug - zwischen unseren Völkern und unseren Kirchen. Aber gerade über diese Wunden führt der Weg der Versöhnung und des neuen Lebens, nicht an ihnen vorbei. Der Auferstandene ist der Gekreuzigte. Unsere Aufgabe ist es weniger, Gemeinschaft mit denen zu suchen, mit denen es uns ohnehin leicht fällt, sondern mit den anderen, mit denen, wo die Vergangenheit Wunden geschlagen hat. Erst dort erfahren wir die Kraft der Auferstehung. Diese Tage waren für mich eine solche Erfahrung der Auferstehung. Neues und früher Unvorstellbares ist möglich. Gott kann uns Menschen und diese Welt verändern und dem Leben zum Durchbruch verhelfen. Das ist die frohe Botschaft, die wir alle der Welt weiterzusagen haben, Katholiken und Protestanten, in Santo Domingo und in Winnenden, und das verbindet uns auch über die größten Entfernungen. Und so wünsche ich mir, dass diese Tage uns helfen, auch wenn wir wieder zu Hause und in den Alltag zurück gekehrt sind, mit unserem ganzen Leben in das Bekenntnis des Thomas einzustimmen, das auch unser gemeinsames Bekenntnis ist: ”Jesus - mein Herr und mein Gott!”

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