Predigt am 17.09.1995 in der Schlosskirche im Rahmen der Predigtreihe über die zehn Gebote

Das 4. Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebst in dem Land, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.


Liebe Gemeinde,

dieses Gebot ist sicher dasjenige, das heute am meisten als altmodisch und überholt empfunden wird. Den Eltern gehorchen - das wollen doch junge Menschen nicht mehr, vor allem in der Pubertät, da ist eine solche Forderung doch eine ärgerliche Einschränkung, da will man frei sein und sich freischwimmen von den Eltern, den Lehrern, den Pfarrern und allen anderen Autoritätspersonen. Jahrhundertelang hat man die Menschen zum Gehorsam erzogen in unsrem Land - gerade auch kirchlicherseits. So wie man Gott Gehorsam schuldet, so schuldet man ihn seinem irdischen Stellvertreter im Land - dem Landesherrn - , in der Familie - den Eltern, genauer gesagt, dem Vater - und in der Schule - dem Lehrer. Der Gehorsam galt als erste Christenpflicht, in Preußen und in Deutschland überhaupt, und er hat seine Folgen gezeitigt im Kaiserreich und leider auch im Dritten Reich.
Dass es gerade in den Schreckensjahren unter Hitler die meisten nicht als ihre Aufgabe begriffen, zu widersprechen, dass so viele anstandslos selbst den verbrecherischsten Befehlen gehorchten, ließ vielen ein Schlussstrich unter die Vergangenheit mit all ihrer Erziehung zum Gehorsam nötig erscheinen. Seit 1949 schreibt das Grundgesetz die Erziehung zum mündigen Bürger als Ziel jeder Erziehung in öffentlichen Einrichtungen, aber auch in den Familien vor. Und ich denke, dies ist unverzichtbarer Grundbestandteil einer Demokratie.
In den Sechzigerjahren schwang das Pendel dann sogar kräftig in die andere Richtung. Neben den Studentenprotesten gegen den alten Muff vergangener Jahrhunderte kam die antiautoritäre Erziehung auf. Gehorchen, Ausrichtung an Autoritäten, das war nun Tabu, die freie und ungehinderte Entwicklung des Kindes war nun angesagt. Auch wenn nicht alle sich dieser Richtung anschlossen, so war doch die Nachkriegsgeneration empfänglich dafür, die in der Überzeugung aufwuchs, dass im Dritten Reich alles - gerade auch in der Erziehung - falsch gemacht wurde.
Ich teile nicht alle Ansichten der antiautoritären Erziehung und halte die Folgen in vielem nicht für erstrebenswert. Aber klar ist für mich, dass es kein Zurück mehr gibt in die Zeiten früherer Erziehung zum Gehorsam. Die Maxime des Grundgesetzes ist die heutige Leitlinie. Hat dann aber das vierte Gebot uns noch etwas zu sagen?
Um der Antwort darauf näher zu kommen, sollten wir einmal anschauen, was dieses Gebot damals in alttestamentlicher Zeit sagen wollte. Damals ging es vor allem um den Umgang der Erwachsenen mit ihren alt und hilfsbedürftig gewordenen Eltern. Damals war es lebenswichtig, dass letztere von ihren Kindern versorgt wurden. Es gab keine Rente oder ähnliche Formen der Absicherung; zudem konnte man unter Nomaden keinen Grundbesitz sein Eigen nennen, den man im Alter hätte verpachten und davon leben können. Hier gab es langes Leben nur, wenn die Kinder wirklich ihre Eltern ehrten, indem sie sie versorgten.
Heute ist unsere Lage anders. Wir sind keine Nomaden, und bei uns gibt es meist eine geregelte Altersversorgung. Bei uns gibt es soziale Dienste, die sich der alten Menschen annehmen - Seniorendienste und Diakoniestationen. Darin kommt etwas zum Ausdruck davon, wie unsere Gesellschaft dieses vierte Gebot umsetzt und dass sie in der Tat in vielem - wenn auch gewiss nicht in allem - von christlichem Grundsätzen geprägt ist.
Aber es wäre sicher falsch, zu glauben, damit hätten wir als Angehörige keine Bedeutung mehr, wir, denen das Gebot ja gerade die wichtigste Aufgabe zuweist. Wir alle wissen, dass alte Menschen nicht nur die alltäglichen Handgriffe brauchen, die die professionellen Dienste leisten - einen Verband anlegen, eine Spritze injizieren - sondern dass diese Menschen auch einfach Zuwendung und Wärme, dass sie Menschen brauchen, die sich ihrer annehmen und Zeit für sie haben. Dafür wird ja bei uns niemand bezahlt - das ist ja keine Arbeit, 'nur' dasitzen und zuhören, weder im Krankenhaus noch im Altenheim noch in der häuslichen Pflege. Wer betagte Eltern hat weiß, dass wir als Angehörige immer noch unersetzbar sind, weil eine fremde Person eben nicht eine nahestehende ersetzen kann, und deshalb ist das vierte Gebot nach wie vor auch heute noch von Bedeutung. Das erfordert oft viel - für alte Menschen da zu sein erfordert viel an Geduld und Hingabe, und die professionellen Dienste sind hier natürlich eine große Hilfe, ohne die eine Pflege oft über unsere Kräfte ginge - aber sie sind kein Ersatz für die Angehörigen.
Ich denke, es ist auch wichtig, dass ich meinen Kindern vorlebe, meine betagten Eltern zu ehren. Wenn sie sehen, dass ich meinen hilfsbedürftigen Eltern nur einen Fußtritt gebe, brauche ich mich nicht zu wundern, wenn sie es mit mir im Alter einmal genauso machen. Darum bedeutet, meinen Vater und meine Mutter zu ehren, auch für mich langes Leben im Alter.
Hinter diesem Gebot steht - wie bei allen Geboten - das Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer und Herrn allen Lebens. Er hat unser Leben gemacht, und er will, dass es auch in Würde gelebt werden kann. Deshalb will er keine Sklaverei, sondern befreit sein Volk aus Ägypten. Deshalb will er keine Angst vor Mord oder Diebstahl und auch nicht, dass Leben durch üble Nachrede beschädigt oder dadurch, dass Familien zerstört werden. Dies gilt aber nicht nur für die Sonnentage in der Jugend oder in der Mitte unseres Lebens, wenn wir im Vollbesitz unsrer körperlichen und geistigen Kräfte sind, wenn wir arbeiten können und darum anderen und dieser Gesellschaft 'etwas bringen', wie man heute sagt, sondern es gilt für unser ganzes Leben bis zum letzten Tag. Auch im hohen Alter, auch wenn der Mensch alt und krank oder hilfsbedürftig geworden ist, bleibt er Gottes Geschöpf, bleibt er mit dieser unverwechselbaren Würde ausgestattet und verdient Ehrung, Achtung, Respekt, Liebe. Wenn Jesus von Nächstenliebe redet, dann will er sie ja auch nicht nur denen gegenüber gelebt wissen, bei denen es uns besonders leicht fällt. Dazu gehört nichts. Nein, gerade bei den anderen kommt es darauf an und gerade da zeigt sich der Christ. Wir machen es Gott auch nicht immer leicht.
Aber auch für den Umgang der pubertierenden Kinder mit ihren Eltern und umgekehrt ist das Gebot nicht bedeutungslos. Dabei hängt alles an dem Wort 'ehren', wie man es definiert. Mit 'ehren' ist ganz sicher nicht kriecherisches untertan sein, völlig unkritischer Gehorsam gemeint. Unsere Verfassung fordert zurecht, dass wir unsere Kinder zu mündigen Menschen erziehen - sie sind, wie gesagt, Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. In der Schule haben wir die Aufgabe, die Kinder und Jugendlichen zu einer eigenen Meinung zu erziehen. Ich erwarte, dass sie sich eine solche bilden. Später werden sie einmal nicht gefragt werden, ob sie meine Meinung wiederholen können, sondern sie werden nach ihrer Meinung gefragt werden. Aber ich erwarte auch von ihnen, dass sie die Meinung anderer ernst nehmen. Das muss nicht heißen, sie zu übernehmen. Wenn Eltern sagen, die Sprösslinge sollen um zehn Uhr wieder zu Hause sein, dann erwarte ich nicht unbedingt, dass die Jungen dies ohne Widerspruch hinnehmen, aber die Eltern zu ehren bedeutet in diesem Fall, mit ihnen in ein Gespräch einzutreten, nicht gleich abzuwinken nach dem Motto "Diese Gruftis, die haben ja sowieso keine Ahnung", sondern sich anzuhören, warum sie gerne wollen, dass sie um zehn Uhr wieder zu Hause sind und sich selbst der Mühe zu unterziehen, den Eltern den eigenen Standpunkt auseinander zu setzen. Ehren hat etwas mit Ernstnehmen zu tun. Ich nehme den anderen auch ernst, indem ich ihm widerspreche, indem ich ihm meine abweichende Meinung auseinandersetze. Dies ist kein Widerspruch zum 4. Gebot, wohl aber, wenn ich nur abwinke mit der Bemerkung "vergiss es" oder "du verstehst es ja doch nicht", "du hast ja doch keine Ahnung". Viele Jugendliche gehen davon aus, dass Menschen einer älteren Generation grundsätzlich von nichts eine Ahnung haben, weil sie ja in einer anderen Zeit aufwuchsen, sie rechen nicht damit, dass auch ihre Eltern einmal Jugendliche waren und dass diese Eltern sie seit der Geburt kennen und beobachten und meist besser kennen als jeder andere, oft besser als sie sich selbst. Sie sind voller Unlust, sich aufrichtig mit ihnen auseinander zu setzen, wie sie überhaupt unwillig sind, sich mit irgend etwas auseinander zu setzen, was nicht dem derzeitigen Modetrend entspricht - oft genug auch mit Kirche und Religion. Dann gebärden sie sich tolerant - der andere darf ruhig die Religion haben, die er will - aber diese Toleranz ist in Wahrheit Gleichgültigkeit. Der Mitmensch interessiert sie nicht, und Glaubensfragen interessieren sie nicht. Niemand kann seine Mitmenschen ehren, wenn sie ihm völlig gleichgültig sind. Das ist heute wohl eher der springende Punkt als der, dass jugendliche oft eine andere Meinung haben als die Erwachsenen.
Solange ich mit jungen Menschen zu tun habe, werde ich ihnen die Auseinandersetzung nicht ersparen, weil wir ihnen keinen Gefallen tun, wenn wir sie der geistigen Trägheit überlassen. Junge Menschen wollen und brauchen Leitlinien für ihr Leben, Maßstäbe für Falsch und Richtig, junge Menschen wollen Grenzen wissen, und junge Menschen brauchen Widerstand, um zu wachsen. Der Widerspruch und der Widerstand ist für sie geradezu die Mauer, an der die Kletterrose Halt findet, um in die Höhe zu wachsen. Es gibt für jungen Menschen nichts Ungesünderes als wenn sie um sich herum nur ins Leere oder ins Schwammige und Ungreifbare tasten, weil sie von Erwachsenen umgeben sind, die aus Unsicherheit und aus Scheu vor der Auseinandersetzung zu keiner klaren Aussage bereit sind. Haben wir den Mut, unseren jungen Menschen klare Leitlinien für ihr Leben mitzugeben! Haben wir den Mut, ihnen auch zu widersprechen, sie herauszufordern und zu kritisieren! Und auch heute, im Jahre 1995, ist es nicht überholt, ihnen Rücksichtnahme und Gebote der Höflichkeit, sprich: soziales Verhalten beizubringen. Erziehung zu Freiheit und Mündigkeit ist nicht Laissez-faire, und wer den Konflikt scheut, wer seine Ruhe haben will und deshalb junge Menschen nur gewähren lässt, tut sich, tut dieser Gesellschaft, tut uns allen überhaupt keinen Gefallen. Die Konflikte werden dann später ins Haus stehen, wenn unsere Gesellschaft sich aus Individuen zusammensetzt, die nie gelernt haben, Rücksicht aufeinander zu nehmen. Auch dies gehört zum 'Ehren' der anderen Person. Es heißt, wie gesagt, nicht, unwahrhaftig zu sein und auch nicht, keine eigene Meinung zu haben. Menschen sind verschieden. Aber solange wir in einer Gesellschaft zusammenleben, müssen wir immer wieder neu lernen und einüben, wie diese Verschiedenheit miteinander auskommen kann. Und dass in ihr sogar ein Reichtum steckt.
Natürlich kann nicht ich von anderen nicht erwarten, dass sie mich ehren, wenn sie nicht umgekehrt dasselbe von mir erfahren. Auch viele ältere Menschen begegnen leider der Welt der Jugendlichen, ihrer Musik, ihrer Art, sich zu kleiden oder ihrer Haarmode mit offener Verachtung. Sie brauchen sich dann nicht zu wundern., wenn es ihnen umgekehrt ebenso ergeht. Gerade darauf kommt es ja an: eben den ganz anderen zu ehren, den, der nicht so ist wie ich. Zu ehren, wer meinem Idealbild entspricht, ist keine Kunst.
So geht es um eine gegenseitige Verpflichtung. Dies kommt ja auch schön zum Ausdruck in dem Text aus dem Epheserbrief, den wir als Schriftlesung hörten, wo es heißt: "Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern", aber auch: "Ihr Eltern, reizt eure Kinder nicht zum Zorn." Die Eltern zu ehren bedeutet keinen blinden Gehorsam von Seiten der Kinder und gibt den Eltern auch nicht das Recht zur Willkür.
Vater und Mutter stehen exemplarisch für den Mitmenschen, den zu ehren Grundbestandteil einer zivilisierten Gesellschaft ist. Unsere engsten Angehörigen liegen uns am meisten am Herzen, deshalb sollte es uns da am leichtesten fallen, und man könnte sagen: wer nicht in der Lage ist, Vater und Mutter zu ehren, ist es noch viel weniger Fremden gegenüber. Andererseits wissen wir aber auch aus Erfahrung, dass das 'Ehren' den nächsten Angehörigen gegenüber, mit denen wir tagtäglich zusammenleben und mit denen es darum die meisten Reibungsflächen gibt, auch besonders schwer sein kann. Mit Sicherheit sind wir aber hier am empfindlichsten für alle Momente, wo wir uns nicht geehrt fühlen.
So wie für uns Christen letztendlich alle in gewisser Weise unsere Schwestern und Brüder sind, weil wir denselben Schöpfer haben, so sind letzten Endes auch alle auf eine Weise für uns Vater und Mutter, sind Geschöpfe desselben Gottes, denen wir Achtung, denen wir Ehre schuldig sind. Man kann den Schöpfer nicht ohne seine Schöpfung ehren. Dieses Leben kommt von Gott, und es verdient Achtung, es soll in Würde gelebt werden - bis zum letzten Tag.

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