Ansprache zur Trauerfeier auf dem Winnender Stadtfriedhof zum
60. Jahrestag des Beschusses der Stadt am 20. April 2005

Text: Lukas 19, 41-44: Jesus weint über Jerusalem


Sehr geehrte Anwesende,

wir denken in diesem Gottesdienst an das Kriegsende in Winnenden vor sechzig Jahren. Wir denken an die Toten und ihre Angehörigen, an die Verletzten, an die Zerstörungen, an den Heimatverlust so vieler, an die bleibenden körperlichen und – äußerlich oft weniger sichtbar – seelischen Schäden, und die Toten und die Zerstörungen hier in Winnenden stehen dabei für die nie da gewesene Verwüstung und die über fünfzig Millionen Toten, die dieser verbrecherische, von uns Deutschen vom Zaun gebrochen Krieg in der ganzen Welt gefordert hat. Und wir denken auch an das, was er zerstört an Vertrauen zwischen Menschen, an Beziehungen zwischen Völkern - wohlwissend, dass diese Dinge noch viel länger brauchen, bis sie wieder aufgebaut sind als Häuser und Gebäude. Wir denken aber auch an diejenigen, die hier in Winnenden mit großem Mut und dem Risiko ihres Lebens weiteres Blutvergießen und noch größere Zerstörungen verhinderten.
Dieses Gedenken möchte ich unter einen biblischen Text stellen, in der der Evangelist Lukas von ganz ähnlichen Ereignissen erzählt: Jesus weint über Jerusalem.

T e x t

Jesus befindet sich kurz vor seiner Verhaftung und Kreuzigung. Aber ihn bekümmert nicht so sehr sein eigenes Schicksal, er weint nicht über sich selbst, sondern über diese Stadt – Jerusalem – über diese Stadt, die ihm am Herzen liegt, mit allen, die darin wohnen – Gottesfürchtigen und weniger Gottesfürchtigen.
Äußerlich ist es noch eine beendruckende Stadt. Der Tempel, den Herodes noch prächtiger als zuvor wieder aufbauen ließ, seine majestätischen Mauern, die herrschaftlichen Bauten der zivilen Gewalt – all dies wird jeden Besucher in seinen Bann geschlagen haben. Die Jerusalemer waren selbstbewusst - schon damals lebten sie in dem Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein – Bewohner der Stadt Davids, der Hauptstadt Israels, der Stadt, in der der Messias einmal erscheinen soll. Einer, die vom Land kam – so wie Jesus - hatte es dort nicht leicht.
Und doch: Jesus sieht hinter aller äußerlichen Pracht schon den Verfall, den Keim des Niedergangs. Er sieht in die Herzen dieser Menschen, er kennt ihren Hochmut und ihren Stolz und ihre mangelnde Bereitschaft zum Frieden, und so sieht er prophetisch voraus, was wenige Jahrzehnte später eintrifft: Jerusalem als Zentrum eines Aufstandes gegen die Römer wird von diesen eingenommen, die Mauern geschliffen, die Stadt mitsamt dem Tempel dem Erdboden gleich gemacht und Juden für alle Zeiten verboten, wieder in dieser Stadt zu siedeln. Das Ende der Stadt Davids – und dass sie einmal, nach Jahrhunderten wieder gegründet werden würde, konnte damals ja noch niemand voraussehen. Für die Zeitgenossen war es das Ende aller Hoffnungen, war es wirklich zum Weinen, zum bittere Tränen vergießen.
Jesus sagt der Stadt dieses Schicksal voraus, weil sie bzw. ihre Bewohner nicht wissen, was dem Frieden dient, weil sie die Zeit der Gnade nicht erkennen.

Am Abend des 20 April 1945 stehen US-amerikanische Truppen vor Winnenden und nehmen sie unter Beschuss. Und wären nicht mutige Männer unter Einsatz ihres eigenen Lebens ihnen entgegen gegangen, die Stadt hätte dasselbe Schicksal wie Jerusalem 1900 Jahre zuvor erlitten. So sind nur einige Häuser zerstört worden, nur 20 Bürger ums Leben gekommen. Aber was sagen wir „nur“ – jeder der Toten war einer zuviel, und jedes zerstörte Haus war eines zuviel.
Auch diese Schreckensereignisse fielen nicht vom Himmel. Wäre Jesus in den Jahren 1933/34 durch Deutschland gegangen, er hätte vielleicht auch hier äußerlich viel Beeindruckendes vorgefunden: ein Land im Aufbruch, neue Arbeitsplätze, Autobahnbau, beeindruckende Aufmärsche, neuer Nationalstolz: ‚Wir sind wieder wer’! Aber er hätte dennoch geweint über dieses Land. Er hätte geweint, weil er die Schattenseiten und weil er in die Herzen der Menschen gesehen hätte und weil ihm eben auch dies nicht verborgen geblieben wäre: die gefährliche Großmachtsucht, die Vorbereitungen einer Revanche für den 1. Weltkrieg, die Intoleranz jüdischen und anderen Mitbürgern gegenüber – kurzum: Das Nichtwissen oder nicht Nichtwahrhabenwollen, was dem Frieden dient.
Es war Dietrich Bonhoeffer, dessen Ermordung sich nun auch zum 60. male jährt, der schon im Jahre 1933 in einer Rundfunkansprache davor warnte, dass der Führer zum Verführer werden könne. Damals schaltete man das Mikrofon ab - das wollte man nicht hören. Und 1934 bei einer ökumenischen Konferenz in Fanö in Dänemark rief er die Kirchen der Welt dazu auf, in einem weltweiten Konzil ein machtvolles Wort des Friedens zu sprechen. Auch damit erntete er nur Kopfschütteln; alle ließen sich damals noch blenden von Hitlers ‚Friedensreden’. Fünf Jahr später überrollte der von Hitler längst gewollte und geplante Krieg Europa – und auch unser Volk. Weil wir nicht wussten, was dem Frieden dient, weil wir die Zeit der Gnade nicht zu nutzen verstanden, brachten wir – und auch andere, aber zuerst einmal wir Deutsche – so viel unsägliches Leid über die Völker Europas, und deshalb fiel diese Unfähigkeit zum Frieden am Ende auch auf uns selbst zurück, auch auf uns hier in Winnenden.

Was dient dem Frieden? Wissen wir es heute?
Wenn Jesus heute durch unser Land gehen würde, er würde wohl auch viel äußere Pracht sehen – Wohlstand, große Autos, moderne Glasbauten, Autobahnen und Schnellbahntrassen. Würde er darüber in Jubel ausbrechen – oder wäre ihm eher zum Weinen zumute? Würde er davon ausgehen, dass all dies Bestand hat, oder würde er hinter aller äußeren Pracht auch schon den Keim des Verfalls, des Niedergangs sehen? Es hängt damit zusammen, ob wir – die Menschen, die in diesem Lande leben – wissen, was dem Frieden dient.
Ich denke an die Gruppen von Rechtsextremisten, die die unselige Zeit des Großdeutschen Reiches wieder aufleben lassen wollen. Sicher, das sind kleine Minderheiten. Aber ein Blick auf Wahlergebnisse wie in Sachsen verbietet es wohl, den Kopf in den Sand zu stecken. Ich denke an die immer noch häufigen Übergriffe gegen Menschen mit anderer Hautfarbe – auf der Straße, in U- und S-Bahnen. Sie beherrschen zwar nicht mehr die Medien, ereignen sich aber immer noch fast täglich in irgend einer deutschen Stadt.
Wissen wir, was dem Frieden dient?
Ich denke an die Waffen aus Deutschland, auch aus schwäbischen Unternehmen, die immer wieder ihren Weg finden in Kriegsgebiete, in die Hände von Diktatoren und Völkermördern. Hier sorgen sie wohl für Arbeit und Brot, anderswo aber für Tod und Verderben.
Wissen wir, was dem Frieden dient?
Ich denke an den latenten Krieg gegen die Armen dieser Welt, deren Hunger oft genug eben kein Schicksal und auch nicht selbstverschuldet, sondern von anderen gemacht ist. Hier tickt eine Zeitbombe, die zu einer der größten Bedrohungen des Weltfriedens werden wird – wenn wir sie nicht rechtzeitig entschärfen. Der Terrorismus gibt uns einen ersten Vorgeschmack darauf. Er ist sicherlich ein komplexes Phänomen, für den es viele Gründe gibt. Einer davon liegt aber sicherlich in der Art und Weise, wie wir reiche Nationen jahrhundertelang andere Völker unterdrückt und gedemütigt und ihnen nur immer wieder das Recht des Stärkeren vor Augen geführt haben – mit der Folge, dass wir in vielen Menschen dort den Wunsch wachsen ließen, irgend wann einmal stark genug zu sein, um zurück schlagen zu können.
Wissen wir, was dem Frieden dient?
Dient es dem Frieden, wenn wir heute – auch nach dem Recht des Stärkeren – unseren luxuriösen Lebensstandard zu erhalten versuchen, indem wir uns mit militärischen Mitteln den Zugang zu Erdölquellen, zu den knapper werdenden Rohstoffen sichern und unbotmäßige Regierungen durch gefügige ersetzen? Wenn wir es nicht schaffen, die knapper werdenden Rohstoffe unter der wachsenden Weltbevölkerung gerecht zu verteilen, wird es keinen Frieden geben. Wenn grenzenloser Spaß und Konsum das oberste Ziel bleiben – auch auf Kosten anderer Völker – dann wird es keinen Frieden geben. Und wo wir uns weigern, die Konflikte dieser Welt offen und also auch selbstkritisch zu analysieren und statt dessen die Welt in Gut und Böse einteilen und zum Kreuzzug gegen die Bösen aufrufen – die natürlich immer die anderen sind – auch dann wird es keinen Frieden geben.
Und ich denke auch an unseren Krieg gegen die Umwelt, der nicht nur ein Krieg gegen Pflanzen und Tiere, sondern immer auch ein Krieg gegen Menschen ist, deren Gesundheit und Leben von einer gesunden Umwelt abhängt. Alles, was wir tun, beeinflusst Menschen in irgend einem Teil dieses Erdballs. Wo wir hier die Ozonschicht beschädigen, sterben in Südaustralien Menschen an Hautkrebs.

Wissen wir, was dem Frieden dient? Einem Frieden, der mehr ist als Friedhofsruhe, sondern Leben für alle? Kennen und nutzen wir die Zeit der Gnade?
Die Zeit der Gnade ist die Zeit, in der wir unbedrängt durch äußere Umstände, die unsere Kräfte und unsere Aufmerksamkeit für andere Dinge binden, uns der Aufgabe widmen können, eine bessere Welt des Friedens und der Gerechtigkeit zu bauen. Anderen Völkern ist sie nicht vergönnt, eine solche Zeit der Gnade. Menschen, die täglich um das nackte Überleben ringen müssen; Menschen, die von Krieg und Bürgerkrieg in Atem gehalten werden; Völker, die immer nur damit beschäftigt sind, die Auswirkungen von Erdbeben und Tsunamis in den Griff zu bekommen – sie alle haben diesen Freiraum nicht.
Wir leben seit 1945 im Frieden, mehr noch - seit 1990 ohne die drohende Konfrontation zwischen Ost und West. Das Leben ist zumindest äußerlich im Großen und Ganzen gesichert. Wir haben Kräfte frei, um die uns andere in dieser Welt beneiden. Wofür nutzen wir diesen Freiraum? Für Spaß und Konsum oder, um an einer besseren, einer friedlicheren und gerechteren Welt zu bauen?

Vieles ist in dieser Hinsicht auch schon geschehen. Meine Eltern lernten einst noch in der Schule, der Franzose sei der Erbfeind, und mit ihm könne es keinen Frieden geben. Heute sehen wir die Franzosen als unsere besten Freunde an, und mit der Europäischen Union sind wir dabei, eine Völkergemeinschaft zu bauen, in der der Krieg undenkbar wird. Das darf aber nicht auf Europa beschränkt bleiben und auch nicht auf Kosten anderer Teile dieser Welt gehen.
Die Kirchen haben – nach Jahrhunderten der Feindschaft und sogar der Glaubenskriege – in den vergangenen Jahrzehnten zu ökumenischer Gemeinschaft gefunden. Glaubenskriege sind heute unter Christen (fast) undenkbar geworden. Aber dabei dürfen wir nicht stehen bleiben. Wir sehen, wie das Verhältnis zwischen den Religionen heute durch Fanatiker vergiftet wird, die namentlich das Christentum und den Islam in einen „Kampf der Kulturen“ drängen wollen. Hier sind wir alle gefordert – Gläubige aller Religionsgemeinschaften – unseren Glauben nicht missbrauchen zu lassen. Glauben und Religion müssen dem Frieden dienen.

Heute trauern wir. Wir trauern um die Toten, die der Beschuss unserer Stadt gefordert hat – und die für alle Toten stehen, die der Größenwahn der Nationalsozialisten auf dem Gewissen hat. Und wir trauern um die Zerstörungen, die dieser Beschuss in unserer Stadt angerichtet hat. Manches – wie die Stadtkirche – konnte wieder aufgebaut werden, anderes ging unwiederbringlich verloren.
Ich gehöre der Generation an, die sich glücklich schätzen kann, dass diese Zeit nicht miterleben musste. Aber ich habe immer gerne und aufmerksam meinen Eltern und Großeltern zugehört, wenn sie aus dieser Zeit erzählten. Bei einem Luftangriff auf Stuttgart wurde auch das Haus meiner Großeltern zerstört. Als mein Vater nach acht Jahren Krieg, Verwundung und Gefangenschaft endlich nach Hause zurück kehrte, gab es das Zuhause nicht mehr, nach dem er sich so sehr gesehnt hatte, und er hat immer wieder davon erzählt, wie schwer es ihm fiel, danach wieder einen Ort zu finden, an dem er sich zu Hause fühlte. Andere, die die Angriffe auf Pforzheim oder Dresden mitmachen mussten, berichten Ähnliches. Wo ihre Städte in Schutt und Asche sanken, da starb auch immer ein Teil von ihnen. Mir zeigt das: Wo Häuser zerstört werden, geht es nicht nur um toten Stein. Es geht um etwas, was den Menschen vertraut geworden ist und das ihnen das Gefühl vermittelt hat: Hier ist meine Heimat, hier bin ich Zuhause.
Macht es Sinn, dieser vergangenen Dinge zu gedenken? Ich meine ja. Für mich macht es Sinn, wenn aus der Trauer um die Vergangenheit Verpflichtung für die Gegenwart wächst. Wer um Tote trauert, wird alles daran setzen, Leben künftig zu schützen, den Frieden zu fördern und dazu beizutragen, dass diese Dinge sich nie wiederholen. Er oder sie wird mit Entschiedenheit denen entgegen treten, die davon träumen, diese unseligen Zeiten wieder aufleben zulassen.
Und wer um zerstörte Häuser trauert und wer zu verstehen versucht, was mit ihnen zu Bruche ging an Bewusstsein, Heimat und ein Zuhause zu haben, der wird behutsam umgehen mit dem, was der Krieg übrig ließ und was uns als historisches Erbe anvertraut ist. Mein Wunsch ist, dass uns diese doppelte Verpflichtung leiten möge – gerade auch in diesen Tagen, wo es in großem Ausmaß um die Erneuerung unserer Stadt geht. So und nur so macht diese Gedenkfeier für mich Sinn.
Sollen wir also des Vergangen gedenken? Ich meine ja, den ich glaube immer noch an die Fähigkeit des Menschen, aus der Vergangenheit zu lernen – und gerade aus den dunklen Stunden lernen wir besonders viel. Ich möchte, dass Jesus, wenn er unsichtbar durch unsere Stadt geht, nicht in Tränen ausbricht – allenfalls in Freudentränen.

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